Könnte sein, dass Sonntag ist
Aus: Berliner Zeitung, 6.4.2006
„Pauls Fall“ ist ein gar langsames Buch und darin ganz gleich seiner Hauptfigur. Paul also: ein alter Mann mit ersten Anzeichen von Vergesslichkeit, seniler Sturheit und anderen Idiosynkrasien, vor allem, wenn es um Fliegen und Flugzeuge geht. Schwer kommt er hoch von Stuhl und Couch, die Kraft verlässt ihn hin und wieder. So verheddert man sich schon mal im eigenen Mantel: „Im Ausziehen ... blieb er stecken, er hatte versucht, ohne die Hilfe der linken Hand, mit der er den Beutel trug, den Arm aus dem rechten zu ziehen, er hatte sich darin verfangen.“
Der Schriftsteller Arne Roß erzählt auf 192 Seiten einen Tag und im letzten Satz einen Morgen aus dem vergehenden Leben Pauls. Paul stromert durch die Gegend, weil der Supermarkt geschlossen hat. Vielleicht öffnet er auch gar nicht mehr, könnte sein, dass Sonntag ist, Paul weiß das im Moment nicht so genau. Überhaupt kommt vieles anders als es sollte. Das mit dem Kuchen etwa, den ihm seine Frau, die nur als anonyme Variable „G.“ vorkommt, für Professor Schneider mitgegeben hat. Paul verzehrt ihn im Wald, auf einem weggeworfenen Kühlschrank sitzend. „Jetzt aß er, er aß langsam. Mit spitzen Fingern sammelte er die Krümel zusammen und legte sie sich auf die Zunge.“
Desweiteren geschieht: ein zielloser Plausch mit dem Nachbarn Dr. Frost, ein Laternenumzug vor dem Haus einer Freundin, ein versehentlich eingestecktes Feuerzeug, eine warme Badewanne am Abend. Auf seinem Spaziergang grüßt Paul oft: die Frau in dem Auto, den Busfahrer, den Soldaten im Gebüsch. Selten antwortet ihm einer.
Doch „Pauls Fall“ ist kein Rührstück über einen einsamen Senior. Denn Roß hat tatsächlich eine regelrechte Fallstudie verfasst. Er ist der teilnehmende Beobachter, notiert in jedem einzelnen Moment gewissen- und ernsthaft, was Paul sagt, wahrnimmt und tut. Jede Drehung des Kopfes, jede Ameise und jedes Blatt, das Paul erblickt, vielmehr: bedächtig heranzoomt. Was sieht der alles, was dem Leser in der eigenen Wirklichkeit entgeht: Wimpern und Wolkenfetzen, einzelne Sonnenstrahlen und Speichelfäden.
Von schweifenden Gedanken oder gar Emotionen dagegen kaum eine Spur. „Pauls Fall“ ist ein grandioser Einspruch gegen jegliche Bewusstseins-Versessenheit, ein nachhaltig beeindruckendes Plädoyer für eine erneute Entdeckung nicht nur der Langsamkeit in der Literatur, sondern auch der Poesie der äußeren Erscheinungen. Denn Roß porträtiert eben keine Welt im Ich. Sondern einen Menschen in seiner Welt. Ein wahrhaft seinen Bedingungen unterworfenes Subjekt. Deshalb ist die Natur so prominent in dieser dichten Beschreibung: Das Altern ist der wohl sichtbarste Beweis ihrer Unabwendbarkeit. Und obwohl man im Alter mehr Zeit zu haben scheint, drängt sie dennoch, weil einem immer weniger von ihr bleibt. So treibt gerade die obsessive Genauigkeit den Roman unaufhörlich vorwärts, die Leere spannt sich zum Zerreißen, die Ruhe wird verdächtig – schließlich muss ihr irgendwann der sprichwörtliche Sturm folgen.
Eine solch anhaltend erwartungsgeladene Stille umgab auch den Autor selbst: 1999 erschien sein Erstling über eine ebenfalls schon in die Jahre gekommene Dame namens „Frau Arlette“, dann lange nichts. „They also serve who only stand and wait“, lautet der Vers John Miltons, den Roß „Pauls Fall“ als Motto vorangestellt hat – als wollte er sich verteidigen, dass er sieben Jahre für die Geschichte eines anders Aufmerksamen brauchte. Dass sich das Warten lohnen wird, ahnte man natürlich längst – das Paradies wird kaum verloren gehen, wenn einer so erzählen kann. Und eine wunderbare Überraschung ist es doch, diesen außergewöhnlichen Ton endlich wieder zu vernehmen. Die Zeit meint es offensichtlich ganz besonders gut mit Arne Roß.
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