Für immer Dora und Emilia
Aus: Stuttgarter Zeitung, 4.10.2006
Der österreichische Autor Thomas Stangl hat vor zwei Jahren, im Alter von 38, sein erstes Buch veröffentlicht: 403 engmaschige Seiten über zwei Europäer, die sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts nach Timbuktu durchschlagen. So sehr man damals dachte, der leuchtend essayistische und mäandernde Tonfall von „Der einzige Ort“ sei dem Thema – das Reisen, das ferne Land – geschuldet, so sehr hat man sich getäuscht. Stangls neuer Roman „Ihre Musik“ spricht auf seinen schmalen 190 Seiten nicht viel anders – obwohl Thomas Stangl darin eine Bewusstseinslandschaft des Verharrens zeichnet.
Dora und ihre Mutter Emilia sind aus der Zeit gefallen, in ihrer Wohnung in Wiens zweitem Bezirk, der Leopoldstadt, wohnten sie schon immer und wohnen sie auch weiter. Dora ist schlichtweg nie ausgezogen. Und wird auch nie ausziehen, da eine Krankheit sie zunehmend bewegungsunfähig macht. „Das Schieben des Rollstuhls ist nur die Wiederholung und die Parodie des Kinderwagenschiebens vor fast vier Jahrzehnten, das Reden dabei, wie zu einer Erwachsenen und doch eher Klang und stille Musik als Bedeutung (doch die Klänge in ihrer Kehle trocknen aus, werden in ihren Ohren zu papiernen Kränzchen), ist Wiederholung und Parodie des fast singenden Erzählens oder fast erzählenden Singens in den Kinderwagen hinein.“ Am Ende unterlässt es Dora schließlich völlig, sich zu rühren, aus eigener Entscheidung siecht sie in ihrem Sessel und stirbt unter den Augen ihrer Mutter. Längst sind die beiden „ineinander übergegangen und in der Gestalt der anderen zerstörter als diese selbst es je sein konnte“.
Eben dies Ineinanderübergehen ist es, das Thomas Stangl interessiert. Deshalb diese Zweierkonstellationen. Und ihr bedeutungsvoller Überschuss: War in „Der einzige Ort“ noch die Stadt Timbuktu der heimliche Dritte im Bunde der beiden Reisenden, so stellt Stangl seinem Duett diesmal einen stimmhaften Ich-Erzähler an die Seite. Einen, der nicht Mensch noch Ding ist: Hier spricht keine Person, die nach der Vergangenheit blickt, sondern ein Gespenst aus allen Zeiten, das über Wiener Straßen schwebt und durch die verlassene Wohnung der beiden Frauen geistert. Die Erinnerung selbst führt das Wort: „Wenn ich mich einer bestimmten Person nähere, dem Fleisch und Bein einer Figur (für die ich naturgemäß unsichtbar bleibe), will ich mich nur weiter verlieren, ich erzähle weiter, vergesse, was ich erzähle, dass sie mich auch nicht hören kann (aber die Stimme ist da und bald an ihrer Stelle nur mehr das Bild).“
Was Thomas Stangl in „Ihre Musik“ versucht, ist kein Leichtes, auch für den Leser nicht: was real, was surreal ist, verschwimmt, was jetzt, was damals ebenfalls. Nur festhalten an der Sprache kann man sich da, sich mit ihr treiben lassen im Wellengang der Sätze, einfach hineintauchen in dieses Buch, um im Schlepptau des Autors den Grund der Worte auszuloten. Das soll pure Liebhaberei sein? Aber ja! Zum Glück des Lesers.
Thomas Stangl: Ihre Musik. Literaturverlag Droschl Graz/Wien 2006. 190 Seiten, 18,50 €
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