Donnerstag, November 30, 2006

Ralf Rothmann: Rehe am Meer

Willst du Nudeln?
Aus: Berliner Zeitung, 30.11.2006

Der Blick des Schriftstellers Ralf Rothmann reicht weit über ihn selbst hinaus, „das Beiseitestehen und Beobachten ist meine Haltung schon seit der Kindheit“, sagte er vor Jahren in einem Interview. Und was hat er nicht alles beobachtet: wuchs im Pott auf, floh aus der dumpfen Enge nach Berlin, schlug sich dort mit Gelegenheitsjobs durch, bevor er sich endlich ganztägig an einem Kreuzberger Schreibtisch niederließ – um auf dem Papier aus eben diesen Erfahrungen seiner literarischen Vorzeit zu schöpfen. Daher die einzigartige Authentizität, die seinem Tonfall innewohnt; und daher die umfassende Autorität dieses Erzählers, die nicht allein dem Erleben am eigenen Leib, sondern vor allem seiner Hellhörigkeit für die Tragik des Sozialen zu verdanken ist.
Ein erster Satz dieses Autors ist deshalb kein simples Wortnacheinander, sondern ein Satz mitten hinein in Biografien, Gedanken und Gedächtnisse. „Es lohnte sich nicht, so kurz vor Feierabend zum Alten zu gehen“, beginnt die erste Geschichte seines neuen Erzählbands „Rehe am Meer“; eine zweite: „Schließen Sie ab, habe ich ihm gesagt, mehr als einmal, lassen Sie nichts rumliegen, die klauen Ihnen sogar Aschenbecher.“ Ein ums andre Mal spürt Rothmann dem nach, was man Heimat nennt, aufmerksam gleichermaßen für das Wetter, das Milieu, das Ungesagte.
Die Behausungen des Menschlichen erkundet auch die titelgebende Geschichte. Die Ich-Erzählerin lässt sich ein zum Verkauf stehendes Haus zeigen: eben jenes, in dem ihre gerade in der Scheidung steckende Ehe stattfand. Der sie durch die Räume führt, weiß davon nichts – und erregt sich über ein paar Handabdrücke in der Wand. „Albern, oder? Was meinen Sie, was so ein Quadratmeter frischer Lehmputz kostet. Und dann drücken die – Vater, Mutter, Baby – ihre Pfoten da rein! Für die Ewigkeit wahrscheinlich. Aber die ist ja nun auch vorbei.“
Auf der Dachterrasse stapft die Frau in Socken durch den hohen Schnee, ein paar Rehe im Blick, die durch das Packeis am Strand stöbern – die Schuhe musste sie unten ausziehen, wegen des neuen Bodens. Noch einmal hinterlässt sie Abdrücke: „‚Na bitte, jetzt haben Sie nasse Strümpfe gekriegt!’ Kopfschüttelnd zeigte er auf meine Füße. ‚Da sieht man schön Ihre Spuren im Haus.’“
Solchen unheimlichen Zufällen und heimlichen Konstellationen hat sich Ralf Rothmann mit seinem elliptisch verdichteten Erzählen schon immer angenommen: Ereignisse, Begegnungen, Entscheidungen, die – obwohl sie auf den ersten Blick so ganz und gar alltäglich scheinen – ein Leben verändern können, weil sie Verborgenes belichten und an die großen Themen wie Freiheit, Tod oder Sexualität rühren. In „Rehe am Meer“ aber ist es deutlicher als in seinen bisherigen Werken die Sprache, die er dafür in die Pflicht nimmt.
So kehren auch in „Willst du Nudeln“ die Worte wieder: Zweimal fällt der titelgebende Satz in dieser Erzählung – einmal sagt ihn einer, der nun tot ist, das andre Mal ein Klemptner, der sich ungefragt und rührig um die Hinterbliebene kümmert. „Tausend Mönche“ wiederum berichtet von Zweien, die sich stets verlesen. Aus der banalen Kleintransporter-Aufschrift „Ofenabriß“ wird in des Mannes und des Mädchens Augen das Wort „Offenbarung“. So buchstäblich und makellos durchdringen sich Profanes und Metaphysisches nur, wenn Ralf Rothmann davon schreibt. Denn er ist einer der berührendsten Gnostiker der Gegenwart.

Ralf Rothmann: Rehe am Meer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 213 Seiten, 19,90 Euro.

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