Willst du Nudeln?
Aus: Berliner Zeitung, 30.11.2006
Der Blick des Schriftstellers Ralf Rothmann reicht weit über ihn selbst hinaus, „das Beiseitestehen und Beobachten ist meine Haltung schon seit der Kindheit“, sagte er vor Jahren in einem Interview. Und was hat er nicht alles beobachtet: wuchs im Pott auf, floh aus der dumpfen Enge nach Berlin, schlug sich dort mit Gelegenheitsjobs durch, bevor er sich endlich ganztägig an einem Kreuzberger Schreibtisch niederließ – um auf dem Papier aus eben diesen Erfahrungen seiner literarischen Vorzeit zu schöpfen. Daher die einzigartige Authentizität, die seinem Tonfall innewohnt; und daher die umfassende Autorität dieses Erzählers, die nicht allein dem Erleben am eigenen Leib, sondern vor allem seiner Hellhörigkeit für die Tragik des Sozialen zu verdanken ist.
Ein erster Satz dieses Autors ist deshalb kein simples Wortnacheinander, sondern ein Satz mitten hinein in Biografien, Gedanken und Gedächtnisse. „Es lohnte sich nicht, so kurz vor Feierabend zum Alten zu gehen“, beginnt die erste Geschichte seines neuen Erzählbands „Rehe am Meer“; eine zweite: „Schließen Sie ab, habe ich ihm gesagt, mehr als einmal, lassen Sie nichts rumliegen, die klauen Ihnen sogar Aschenbecher.“ Ein ums andre Mal spürt Rothmann dem nach, was man Heimat nennt, aufmerksam gleichermaßen für das Wetter, das Milieu, das Ungesagte.
Die Behausungen des Menschlichen erkundet auch die titelgebende Geschichte. Die Ich-Erzählerin lässt sich ein zum Verkauf stehendes Haus zeigen: eben jenes, in dem ihre gerade in der Scheidung steckende Ehe stattfand. Der sie durch die Räume führt, weiß davon nichts – und erregt sich über ein paar Handabdrücke in der Wand. „Albern, oder? Was meinen Sie, was so ein Quadratmeter frischer Lehmputz kostet. Und dann drücken die – Vater, Mutter, Baby – ihre Pfoten da rein! Für die Ewigkeit wahrscheinlich. Aber die ist ja nun auch vorbei.“
Auf der Dachterrasse stapft die Frau in Socken durch den hohen Schnee, ein paar Rehe im Blick, die durch das Packeis am Strand stöbern – die Schuhe musste sie unten ausziehen, wegen des neuen Bodens. Noch einmal hinterlässt sie Abdrücke: „‚Na bitte, jetzt haben Sie nasse Strümpfe gekriegt!’ Kopfschüttelnd zeigte er auf meine Füße. ‚Da sieht man schön Ihre Spuren im Haus.’“
Solchen unheimlichen Zufällen und heimlichen Konstellationen hat sich Ralf Rothmann mit seinem elliptisch verdichteten Erzählen schon immer angenommen: Ereignisse, Begegnungen, Entscheidungen, die – obwohl sie auf den ersten Blick so ganz und gar alltäglich scheinen – ein Leben verändern können, weil sie Verborgenes belichten und an die großen Themen wie Freiheit, Tod oder Sexualität rühren. In „Rehe am Meer“ aber ist es deutlicher als in seinen bisherigen Werken die Sprache, die er dafür in die Pflicht nimmt.
So kehren auch in „Willst du Nudeln“ die Worte wieder: Zweimal fällt der titelgebende Satz in dieser Erzählung – einmal sagt ihn einer, der nun tot ist, das andre Mal ein Klemptner, der sich ungefragt und rührig um die Hinterbliebene kümmert. „Tausend Mönche“ wiederum berichtet von Zweien, die sich stets verlesen. Aus der banalen Kleintransporter-Aufschrift „Ofenabriß“ wird in des Mannes und des Mädchens Augen das Wort „Offenbarung“. So buchstäblich und makellos durchdringen sich Profanes und Metaphysisches nur, wenn Ralf Rothmann davon schreibt. Denn er ist einer der berührendsten Gnostiker der Gegenwart.
Ralf Rothmann: Rehe am Meer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 213 Seiten, 19,90 Euro.
Donnerstag, November 30, 2006
Mittwoch, November 29, 2006
Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren
Das meint der doch nicht ernst!
Aus: Der Bund, 16.10.2006
Wolf Haas schreibt keinen Liebesroman, redet aber ein Buch lang über ihn
Eine gute Unterhaltung: Ein Autor namens Wolf Haas und eine "Literaturbeilage" deuten, besprechen und kritisieren ein Werk, das es nicht gibt.
Liebesroman, Liebesroman, Liebesroman – immer wieder stach einem dieses Etikett in den Vorankündigungen des neuen Buches von Wolf Haas ins Auge. Haas war bislang durch schräg schlaue Krimis aufgefallen, seine 2003 abgeschlossene Hexalogie über den austro-sarkastischen Privatdetektiv Brenner gehört wohl zu den bekanntesten Geheimtipps. Und nun also das: Selbst der Klappentext von „Das Wetter vor 15 Jahren“ wagt es scheinbar treudoof, die ach so schlichte Vokabel „Liebesroman“ in den Mund zu nehmen. Das kann der Haas doch nicht ernst meinen! Doch, doch. Allerdings ganz anders, als man dachte.
Wolf Haas hat dem Literaturbetrieb ein Kuckucksei ins traute Nest gelegt. Nicht, dass er zu faul zum Brüten wäre, im Gegenteil; denn eigentlich hat er gleich zwei Bücher in einem geschrieben. Das eine handelt von Vittorio Kowalski, dessen unvergessener Jugendurlaubsliebe Anni, dem Wetter der vergangenen 15 Jahre in einem österreichischen Urlaubsort, einer Luftmatratze, die bestialisch stinkt und einem finalen Knall. Das Problem dieses Romans: Er existiert nicht. Dafür handelt das Buch namens „Das Wetter vor 15 Jahren“ von nichts anderem. Darin nämlich unterhalten sich ein gewisser „Wolf Haas“ und eine gewisse „Literaturbeilage“, die gerne „würklich“ und „ürgendwie“ sagt, über diesen Liebesroman von Haas, den es gar nicht gibt und somit also doch irgendwie gibt. So imaginär zumindest. Ab und an wird daraus zitiert, auch von ersten Rezensionen ist die Rede.
Eine wunderbare Unterhaltung: Wenn die „Literaturbeilage“ kritisch sein will, bemängelt sie eine Stelle als „too much“, wenn sie intelligent sein will, spricht sie über Phallus-Symbolik und Atem-Metaphorik; über kleine Anerkennungsgesten vom Herrn Künstler freut sie sich immer. Ein nicht arg böser, teilweise sogar liebevoller Seitenhieb auf den Jargon und das Gebaren einer Branche, die desöfteren mehr in den Buchstaben findet, als der Schriftsteller sich dabei gedacht hat. Ähnlich sympathisch aber mit Macken hat Haas sein Selbstporträt skizziert.
„Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird“, meint die Literaturbeilage bald am Anfang des Gesprächs. Und Wolf Haas antwortet: „Deshalb schreibe ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man vorher schon alles weiss. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren.“ Zu unserem Glück hat Wolf Haas noch nie „normale Bücher“ geschrieben und sich immer schon aufs Kleingedruckte konzentriert. Nur puzzelt der Leser eben diesmal nicht die Indizien eines Mordfalls zusammen, sondern die einer rührend romantischen und tragisch komischen Liebesgeschichte. Der Leser als Detektiv – auf der Spur eines Autors, der wieder einmal mit einfach grosser Geste zeigt, dass ein wenig Hinterfotzigkeit der Literatur nur gut tut.
Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 224 Seiten, 33,50SFr
Aus: Der Bund, 16.10.2006
Wolf Haas schreibt keinen Liebesroman, redet aber ein Buch lang über ihn
Eine gute Unterhaltung: Ein Autor namens Wolf Haas und eine "Literaturbeilage" deuten, besprechen und kritisieren ein Werk, das es nicht gibt.
Liebesroman, Liebesroman, Liebesroman – immer wieder stach einem dieses Etikett in den Vorankündigungen des neuen Buches von Wolf Haas ins Auge. Haas war bislang durch schräg schlaue Krimis aufgefallen, seine 2003 abgeschlossene Hexalogie über den austro-sarkastischen Privatdetektiv Brenner gehört wohl zu den bekanntesten Geheimtipps. Und nun also das: Selbst der Klappentext von „Das Wetter vor 15 Jahren“ wagt es scheinbar treudoof, die ach so schlichte Vokabel „Liebesroman“ in den Mund zu nehmen. Das kann der Haas doch nicht ernst meinen! Doch, doch. Allerdings ganz anders, als man dachte.
Wolf Haas hat dem Literaturbetrieb ein Kuckucksei ins traute Nest gelegt. Nicht, dass er zu faul zum Brüten wäre, im Gegenteil; denn eigentlich hat er gleich zwei Bücher in einem geschrieben. Das eine handelt von Vittorio Kowalski, dessen unvergessener Jugendurlaubsliebe Anni, dem Wetter der vergangenen 15 Jahre in einem österreichischen Urlaubsort, einer Luftmatratze, die bestialisch stinkt und einem finalen Knall. Das Problem dieses Romans: Er existiert nicht. Dafür handelt das Buch namens „Das Wetter vor 15 Jahren“ von nichts anderem. Darin nämlich unterhalten sich ein gewisser „Wolf Haas“ und eine gewisse „Literaturbeilage“, die gerne „würklich“ und „ürgendwie“ sagt, über diesen Liebesroman von Haas, den es gar nicht gibt und somit also doch irgendwie gibt. So imaginär zumindest. Ab und an wird daraus zitiert, auch von ersten Rezensionen ist die Rede.
Eine wunderbare Unterhaltung: Wenn die „Literaturbeilage“ kritisch sein will, bemängelt sie eine Stelle als „too much“, wenn sie intelligent sein will, spricht sie über Phallus-Symbolik und Atem-Metaphorik; über kleine Anerkennungsgesten vom Herrn Künstler freut sie sich immer. Ein nicht arg böser, teilweise sogar liebevoller Seitenhieb auf den Jargon und das Gebaren einer Branche, die desöfteren mehr in den Buchstaben findet, als der Schriftsteller sich dabei gedacht hat. Ähnlich sympathisch aber mit Macken hat Haas sein Selbstporträt skizziert.
„Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird“, meint die Literaturbeilage bald am Anfang des Gesprächs. Und Wolf Haas antwortet: „Deshalb schreibe ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man vorher schon alles weiss. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren.“ Zu unserem Glück hat Wolf Haas noch nie „normale Bücher“ geschrieben und sich immer schon aufs Kleingedruckte konzentriert. Nur puzzelt der Leser eben diesmal nicht die Indizien eines Mordfalls zusammen, sondern die einer rührend romantischen und tragisch komischen Liebesgeschichte. Der Leser als Detektiv – auf der Spur eines Autors, der wieder einmal mit einfach grosser Geste zeigt, dass ein wenig Hinterfotzigkeit der Literatur nur gut tut.
Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 224 Seiten, 33,50SFr
Thomas Stangl: Ihre Musik
Für immer Dora und Emilia
Aus: Stuttgarter Zeitung, 4.10.2006
Der österreichische Autor Thomas Stangl hat vor zwei Jahren, im Alter von 38, sein erstes Buch veröffentlicht: 403 engmaschige Seiten über zwei Europäer, die sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts nach Timbuktu durchschlagen. So sehr man damals dachte, der leuchtend essayistische und mäandernde Tonfall von „Der einzige Ort“ sei dem Thema – das Reisen, das ferne Land – geschuldet, so sehr hat man sich getäuscht. Stangls neuer Roman „Ihre Musik“ spricht auf seinen schmalen 190 Seiten nicht viel anders – obwohl Thomas Stangl darin eine Bewusstseinslandschaft des Verharrens zeichnet.
Dora und ihre Mutter Emilia sind aus der Zeit gefallen, in ihrer Wohnung in Wiens zweitem Bezirk, der Leopoldstadt, wohnten sie schon immer und wohnen sie auch weiter. Dora ist schlichtweg nie ausgezogen. Und wird auch nie ausziehen, da eine Krankheit sie zunehmend bewegungsunfähig macht. „Das Schieben des Rollstuhls ist nur die Wiederholung und die Parodie des Kinderwagenschiebens vor fast vier Jahrzehnten, das Reden dabei, wie zu einer Erwachsenen und doch eher Klang und stille Musik als Bedeutung (doch die Klänge in ihrer Kehle trocknen aus, werden in ihren Ohren zu papiernen Kränzchen), ist Wiederholung und Parodie des fast singenden Erzählens oder fast erzählenden Singens in den Kinderwagen hinein.“ Am Ende unterlässt es Dora schließlich völlig, sich zu rühren, aus eigener Entscheidung siecht sie in ihrem Sessel und stirbt unter den Augen ihrer Mutter. Längst sind die beiden „ineinander übergegangen und in der Gestalt der anderen zerstörter als diese selbst es je sein konnte“.
Eben dies Ineinanderübergehen ist es, das Thomas Stangl interessiert. Deshalb diese Zweierkonstellationen. Und ihr bedeutungsvoller Überschuss: War in „Der einzige Ort“ noch die Stadt Timbuktu der heimliche Dritte im Bunde der beiden Reisenden, so stellt Stangl seinem Duett diesmal einen stimmhaften Ich-Erzähler an die Seite. Einen, der nicht Mensch noch Ding ist: Hier spricht keine Person, die nach der Vergangenheit blickt, sondern ein Gespenst aus allen Zeiten, das über Wiener Straßen schwebt und durch die verlassene Wohnung der beiden Frauen geistert. Die Erinnerung selbst führt das Wort: „Wenn ich mich einer bestimmten Person nähere, dem Fleisch und Bein einer Figur (für die ich naturgemäß unsichtbar bleibe), will ich mich nur weiter verlieren, ich erzähle weiter, vergesse, was ich erzähle, dass sie mich auch nicht hören kann (aber die Stimme ist da und bald an ihrer Stelle nur mehr das Bild).“
Was Thomas Stangl in „Ihre Musik“ versucht, ist kein Leichtes, auch für den Leser nicht: was real, was surreal ist, verschwimmt, was jetzt, was damals ebenfalls. Nur festhalten an der Sprache kann man sich da, sich mit ihr treiben lassen im Wellengang der Sätze, einfach hineintauchen in dieses Buch, um im Schlepptau des Autors den Grund der Worte auszuloten. Das soll pure Liebhaberei sein? Aber ja! Zum Glück des Lesers.
Thomas Stangl: Ihre Musik. Literaturverlag Droschl Graz/Wien 2006. 190 Seiten, 18,50 €
Aus: Stuttgarter Zeitung, 4.10.2006
Der österreichische Autor Thomas Stangl hat vor zwei Jahren, im Alter von 38, sein erstes Buch veröffentlicht: 403 engmaschige Seiten über zwei Europäer, die sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts nach Timbuktu durchschlagen. So sehr man damals dachte, der leuchtend essayistische und mäandernde Tonfall von „Der einzige Ort“ sei dem Thema – das Reisen, das ferne Land – geschuldet, so sehr hat man sich getäuscht. Stangls neuer Roman „Ihre Musik“ spricht auf seinen schmalen 190 Seiten nicht viel anders – obwohl Thomas Stangl darin eine Bewusstseinslandschaft des Verharrens zeichnet.
Dora und ihre Mutter Emilia sind aus der Zeit gefallen, in ihrer Wohnung in Wiens zweitem Bezirk, der Leopoldstadt, wohnten sie schon immer und wohnen sie auch weiter. Dora ist schlichtweg nie ausgezogen. Und wird auch nie ausziehen, da eine Krankheit sie zunehmend bewegungsunfähig macht. „Das Schieben des Rollstuhls ist nur die Wiederholung und die Parodie des Kinderwagenschiebens vor fast vier Jahrzehnten, das Reden dabei, wie zu einer Erwachsenen und doch eher Klang und stille Musik als Bedeutung (doch die Klänge in ihrer Kehle trocknen aus, werden in ihren Ohren zu papiernen Kränzchen), ist Wiederholung und Parodie des fast singenden Erzählens oder fast erzählenden Singens in den Kinderwagen hinein.“ Am Ende unterlässt es Dora schließlich völlig, sich zu rühren, aus eigener Entscheidung siecht sie in ihrem Sessel und stirbt unter den Augen ihrer Mutter. Längst sind die beiden „ineinander übergegangen und in der Gestalt der anderen zerstörter als diese selbst es je sein konnte“.
Eben dies Ineinanderübergehen ist es, das Thomas Stangl interessiert. Deshalb diese Zweierkonstellationen. Und ihr bedeutungsvoller Überschuss: War in „Der einzige Ort“ noch die Stadt Timbuktu der heimliche Dritte im Bunde der beiden Reisenden, so stellt Stangl seinem Duett diesmal einen stimmhaften Ich-Erzähler an die Seite. Einen, der nicht Mensch noch Ding ist: Hier spricht keine Person, die nach der Vergangenheit blickt, sondern ein Gespenst aus allen Zeiten, das über Wiener Straßen schwebt und durch die verlassene Wohnung der beiden Frauen geistert. Die Erinnerung selbst führt das Wort: „Wenn ich mich einer bestimmten Person nähere, dem Fleisch und Bein einer Figur (für die ich naturgemäß unsichtbar bleibe), will ich mich nur weiter verlieren, ich erzähle weiter, vergesse, was ich erzähle, dass sie mich auch nicht hören kann (aber die Stimme ist da und bald an ihrer Stelle nur mehr das Bild).“
Was Thomas Stangl in „Ihre Musik“ versucht, ist kein Leichtes, auch für den Leser nicht: was real, was surreal ist, verschwimmt, was jetzt, was damals ebenfalls. Nur festhalten an der Sprache kann man sich da, sich mit ihr treiben lassen im Wellengang der Sätze, einfach hineintauchen in dieses Buch, um im Schlepptau des Autors den Grund der Worte auszuloten. Das soll pure Liebhaberei sein? Aber ja! Zum Glück des Lesers.
Thomas Stangl: Ihre Musik. Literaturverlag Droschl Graz/Wien 2006. 190 Seiten, 18,50 €
Dienstag, August 08, 2006
Der Aufstand der Abziehbildchen: Michal Hvoreckys Roman "City"
Aus: Der Bund, 28.7.2006
Der 30-jährige Michal Hvorecky erzählt gewitzt und lustvoll von einem Ende der Utopien. Im Roman «City» sucht ein Internetsüchtiger nach dem Echten. Und wird schließlich selbst Opfer der Inszenierungen.
Das ist Unglück im Glück: Geboren Anfang des 21. Jahrhunderts, bekam Irvin Mirsky zwar keinen Markennamen wie alle anderen Kinder, die Nivea, Gucci oder gar GlaxoSmithKline genannt wurden. Seine Eltern ließen sich einen gut dotierten Sponsoring-Vertrag entgehen, um Irvin erst recht als Doppelgänger durchs Leben zu schicken. «Mein älterer Bruder war bei seiner Geburt gestorben, und meine Eltern hatten mir denselben Namen wie ihm gegeben (...). Ich musste ein Grab mit meinem Namen besuchen.» Wie es mit diesem menschlichen Epitaph weitergeht: Irvin verschlägt es in die Hauptstadt «Supereuropas», nach City, dem, wie es heißt, «unwahrscheinlichsten aller Orte».
Der slowakische, in Bratislava lebende Autor Michal Hvorecky hat, gerade mal 30 Jahre alt, bereits zwei Erzählbände und einen Roman veröffentlicht. Jetzt liegt «City» vor, «Für meinen Bruder» steht als Widmung darin. Ein Witz am Rande oder gezielte Irritation von Fiktion und Wirklichkeit? Vermutlich beides. Denn Hvorecky treibt durchgehend herrlichen Schabernack mit Nachahmungen und Repliken. Sein Ich-Erzähler Irvin ist süchtig nach Virtualität, seit seiner Jugend surft er tage-, nächte-, wochenlang im Internet, jegliche Porno-Seiten haben es ihm angetan. «Tausende von Körpern kannte ich besser als meinen eigenen», sagt er ebenso lapidar wie offenherzig.
So schlicht und abgeklärt plaudert dieser schelmische Kopien-Junkie stets, weil er zwar keine Ideale, aber immerhin einen gesunden Menschenverstand besitzt. Er nimmt es einfach hin, wenn auch verwundert ab und zu. Überall in City geht es um Sex; auf Stadtplänen sind keine Straßennamen, dafür die großen Firmen verzeichnet; Abgeordnete heißen wie Comicfiguren, wenn ihr Geldgeber das will; in einem Coffeeshop bekommt er als Zugabe zum Milchkaffee ein ungenießbares Getränk namens «Commercial Suicide».
Doch Michal Hvorecky ist nicht nur ein inspiriert gewitzter Autor, sondern zudem ein lustvoller Textweber. Seite für Seite vernetzen sich die Ereignisse, Sätze und Handlungen aus Irvins Bildschirmzeit kehren wieder, werden wahr. Nach einem Stromausfall verbreitet Irvin eine halbgare Theorie vom Glück der Elektrizitätslosigkeit, seine Jünger treibens wild, vor allem miteinander. «Das Ganze kam mir seltsam vor, als hätte ich es schon einmal gesehen.» Die Wirklichkeit wird endlich eingeholt – von ihrer Inszenierung: Als Erlöser-Superheld tauft Irvin all die Niveas, Guccis und GlaxoSmithKlines neu – auf die Namen seiner ehemaligen Lieblingswebsites nämlich.
So ist die Utopie verseucht, von Anfang an. Die Sehnsucht nach dem Echten führt immer tiefer in den Dschungel der Abziehbildchen. Und am Ende enttarnt sich Irvins Realität als vielleicht größter Fake.
Michal Hvorecky: City: Der unwahrscheinlichste aller Orte. Roman. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetz. Tropen Verlag, Berlin 2006. 280 S., Fr 33.90.
Der 30-jährige Michal Hvorecky erzählt gewitzt und lustvoll von einem Ende der Utopien. Im Roman «City» sucht ein Internetsüchtiger nach dem Echten. Und wird schließlich selbst Opfer der Inszenierungen.
Das ist Unglück im Glück: Geboren Anfang des 21. Jahrhunderts, bekam Irvin Mirsky zwar keinen Markennamen wie alle anderen Kinder, die Nivea, Gucci oder gar GlaxoSmithKline genannt wurden. Seine Eltern ließen sich einen gut dotierten Sponsoring-Vertrag entgehen, um Irvin erst recht als Doppelgänger durchs Leben zu schicken. «Mein älterer Bruder war bei seiner Geburt gestorben, und meine Eltern hatten mir denselben Namen wie ihm gegeben (...). Ich musste ein Grab mit meinem Namen besuchen.» Wie es mit diesem menschlichen Epitaph weitergeht: Irvin verschlägt es in die Hauptstadt «Supereuropas», nach City, dem, wie es heißt, «unwahrscheinlichsten aller Orte».
Der slowakische, in Bratislava lebende Autor Michal Hvorecky hat, gerade mal 30 Jahre alt, bereits zwei Erzählbände und einen Roman veröffentlicht. Jetzt liegt «City» vor, «Für meinen Bruder» steht als Widmung darin. Ein Witz am Rande oder gezielte Irritation von Fiktion und Wirklichkeit? Vermutlich beides. Denn Hvorecky treibt durchgehend herrlichen Schabernack mit Nachahmungen und Repliken. Sein Ich-Erzähler Irvin ist süchtig nach Virtualität, seit seiner Jugend surft er tage-, nächte-, wochenlang im Internet, jegliche Porno-Seiten haben es ihm angetan. «Tausende von Körpern kannte ich besser als meinen eigenen», sagt er ebenso lapidar wie offenherzig.
So schlicht und abgeklärt plaudert dieser schelmische Kopien-Junkie stets, weil er zwar keine Ideale, aber immerhin einen gesunden Menschenverstand besitzt. Er nimmt es einfach hin, wenn auch verwundert ab und zu. Überall in City geht es um Sex; auf Stadtplänen sind keine Straßennamen, dafür die großen Firmen verzeichnet; Abgeordnete heißen wie Comicfiguren, wenn ihr Geldgeber das will; in einem Coffeeshop bekommt er als Zugabe zum Milchkaffee ein ungenießbares Getränk namens «Commercial Suicide».
Doch Michal Hvorecky ist nicht nur ein inspiriert gewitzter Autor, sondern zudem ein lustvoller Textweber. Seite für Seite vernetzen sich die Ereignisse, Sätze und Handlungen aus Irvins Bildschirmzeit kehren wieder, werden wahr. Nach einem Stromausfall verbreitet Irvin eine halbgare Theorie vom Glück der Elektrizitätslosigkeit, seine Jünger treibens wild, vor allem miteinander. «Das Ganze kam mir seltsam vor, als hätte ich es schon einmal gesehen.» Die Wirklichkeit wird endlich eingeholt – von ihrer Inszenierung: Als Erlöser-Superheld tauft Irvin all die Niveas, Guccis und GlaxoSmithKlines neu – auf die Namen seiner ehemaligen Lieblingswebsites nämlich.
So ist die Utopie verseucht, von Anfang an. Die Sehnsucht nach dem Echten führt immer tiefer in den Dschungel der Abziehbildchen. Und am Ende enttarnt sich Irvins Realität als vielleicht größter Fake.
Michal Hvorecky: City: Der unwahrscheinlichste aller Orte. Roman. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetz. Tropen Verlag, Berlin 2006. 280 S., Fr 33.90.
Mittwoch, Juni 21, 2006
Michael Stavaric: stillborn
Der Monolog der Maklerin
Aus: Berliner Zeitung, 8.Juni 2006
Elisa fertigt gerne Listen an. „Manches kann man sich schon aussuchen: Radiosender, Kreuzungen, Fahrstreifen, Kaugummisorten, Brillen, Putzmittel, Pelzmäntel.“ Oder: „Was auch noch einfach ist: Wasser kochen, Kaffee, Tee, Auftauen, Einfrieren, Glühbirnen wechseln, Nägel feilen, sich etwas zwischen die Beine stecken, mit jemandem dran.“
Ganz richtig: Diese Frau mit Nachnamen Frankenstein ist herrlich irre. Und zum Glück äußerst redselig. Ohne Unterlass, durchsetzt von zahlreichen Kommata, protokolliert sie die Ereignisse um sich herum. Und dabei strömen die Gedanken nach hier und nach dort, mal reihen sie sich brav, mal wild; oft springen sie ein wenig durcheinander; erst über Satzzeichen hinweg, dann den Lauten hinterher – wie bei Brillenputzmittelpelzmantel.
Der Monolog der erfolgreichen Maklerin und selbst ernannten Totgeburt Elisa Frankenstein über sich, ihre Firma, ein paar Wohnungsbrände, ihr Pferd, den Kommissar, ihre Mutter und immer wieder sich trägt den Titel „stillborn“, kleingeschrieben, weil aus dem Englischen – was tatsächlich netter klingt als die deutsche Übersetzung „totgeboren“. Verfasst hat den bissigen Entfremdungs-Krimi der 1972 in Tschechien geborene, schon lange in Wien lebende Autor Michael Stavarič.
Stavarič ist ein intellektueller Tausendsassa. Er hat für die tschechische Botschaft und den internationalen P.E.N.-Präsidenten gearbeitet, einiges übersetzt, einiges herausgegeben und zudem einen Lehrauftrag am Sportinstitut der Uni Wien. Im vergangenen Jahr erschien „Europa. Eine Litanei“, bei Kookbooks, einem der jungen Verlage, die man gerade ganz genau im Auge hat. Und nun also „stillborn“ im Residenzverlag: eine schwarze Komödie über Brandstiftung und lang zurückliegende Mädchenmorde; eine böse Satire auf Sozio-Freaks und anders Gestörte; eine Horror-Picture-Show auf wienerisch. I´m just a sweet psychotic, trällert Elisa vermutlich heimlich. Das „Ich“ lässt sie deshalb so oft wie möglich weg oder ersetzt es durch Reihen wie „ich, du, sie“ oder „er, ich, wir, sie“.
Ab und an hat sie Visionen von einem ordentlichen Leben, mit Familie. „Wir essen gemeinsam, die Kinder sind artig, machen Hausaufgaben, kämmen die Katze, die ist echt lammfromm.“ Selbstredend hat sie einen „Herrn Doktor“, mit dem sie jedoch über anderes spricht, und der die grünen Pillen dann reduziert (die hat sie ohnehin nur ihm zuliebe genommen) und mehr von den blauen verschreibt. Elisa braucht die auch: „Das Haus grüßt freundlich, ich tue so, als hätte ich nichts gehört, nehme eine blaue Pille aus meiner Handtasche, die wird das richten.“
So schminkt und dopt sich Fräulein Frankenstein durchs Leben. An der sozialen Oberfläche stimmt alles, denn wie man – ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie – sich benimmt, weiß sie. Sie eilt zu Hilfe, wenn alte Damen schwer an ihren prallen Einkaufstüten tragen, kümmert sich um das Baby der Kollegin, besucht ihren Reitlehrer im Krankenhaus. Das Lächeln nie vergessen: wenn die „Schlampe“ vom Schreibtisch gegenüber etwas fragt, wenn eine „Pissnelke“ sie angrinst, wenn Kunden dumme Fragen stellen.
Doch diese Intimität des fiesen Zungenschlags ist trügerisch, weil auch der Leser längst nicht alles erfährt. Auch die Ironie von Elisas Litanei – „lebe, atme, lebe, atme“ – wird bald fraglich. Denn Michael Stavarič spielt nicht nur mit Floskeln und Erwartungen, sondern auch mit der gewählten Form, dem eigentlich arg in die Jahre gekommenen Bewusstseinsstrom. Stavarič verleiht ihm neuen Glanz: durch seinen trockenen Witz, seinen Sinn für Sein und Schein, seine nur scheinbar naive, tatsächlich wohl eher durchschnittlich verschrobene Protagonistin.
„Ich bin geneigt anzunehmen, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt, Sie doch auch?“ fragt sie einmal den Leser ganz direkt. Ja, Elisa Frankenstein, wir auch. Aber das geht schon in Ordnung. Denn nur weil da etwas nicht stimmt, konnte Michael Stavarič dieses wunderbare Buch darüber schreiben. Was nämlich auch noch toll ist: „stillborn“ lesen.
Michael Stavarič: stillborn. Residenz Verlag, Salzburg 2006. 172 Seiten, 15,90 Euro.
Aus: Berliner Zeitung, 8.Juni 2006
Elisa fertigt gerne Listen an. „Manches kann man sich schon aussuchen: Radiosender, Kreuzungen, Fahrstreifen, Kaugummisorten, Brillen, Putzmittel, Pelzmäntel.“ Oder: „Was auch noch einfach ist: Wasser kochen, Kaffee, Tee, Auftauen, Einfrieren, Glühbirnen wechseln, Nägel feilen, sich etwas zwischen die Beine stecken, mit jemandem dran.“
Ganz richtig: Diese Frau mit Nachnamen Frankenstein ist herrlich irre. Und zum Glück äußerst redselig. Ohne Unterlass, durchsetzt von zahlreichen Kommata, protokolliert sie die Ereignisse um sich herum. Und dabei strömen die Gedanken nach hier und nach dort, mal reihen sie sich brav, mal wild; oft springen sie ein wenig durcheinander; erst über Satzzeichen hinweg, dann den Lauten hinterher – wie bei Brillenputzmittelpelzmantel.
Der Monolog der erfolgreichen Maklerin und selbst ernannten Totgeburt Elisa Frankenstein über sich, ihre Firma, ein paar Wohnungsbrände, ihr Pferd, den Kommissar, ihre Mutter und immer wieder sich trägt den Titel „stillborn“, kleingeschrieben, weil aus dem Englischen – was tatsächlich netter klingt als die deutsche Übersetzung „totgeboren“. Verfasst hat den bissigen Entfremdungs-Krimi der 1972 in Tschechien geborene, schon lange in Wien lebende Autor Michael Stavarič.
Stavarič ist ein intellektueller Tausendsassa. Er hat für die tschechische Botschaft und den internationalen P.E.N.-Präsidenten gearbeitet, einiges übersetzt, einiges herausgegeben und zudem einen Lehrauftrag am Sportinstitut der Uni Wien. Im vergangenen Jahr erschien „Europa. Eine Litanei“, bei Kookbooks, einem der jungen Verlage, die man gerade ganz genau im Auge hat. Und nun also „stillborn“ im Residenzverlag: eine schwarze Komödie über Brandstiftung und lang zurückliegende Mädchenmorde; eine böse Satire auf Sozio-Freaks und anders Gestörte; eine Horror-Picture-Show auf wienerisch. I´m just a sweet psychotic, trällert Elisa vermutlich heimlich. Das „Ich“ lässt sie deshalb so oft wie möglich weg oder ersetzt es durch Reihen wie „ich, du, sie“ oder „er, ich, wir, sie“.
Ab und an hat sie Visionen von einem ordentlichen Leben, mit Familie. „Wir essen gemeinsam, die Kinder sind artig, machen Hausaufgaben, kämmen die Katze, die ist echt lammfromm.“ Selbstredend hat sie einen „Herrn Doktor“, mit dem sie jedoch über anderes spricht, und der die grünen Pillen dann reduziert (die hat sie ohnehin nur ihm zuliebe genommen) und mehr von den blauen verschreibt. Elisa braucht die auch: „Das Haus grüßt freundlich, ich tue so, als hätte ich nichts gehört, nehme eine blaue Pille aus meiner Handtasche, die wird das richten.“
So schminkt und dopt sich Fräulein Frankenstein durchs Leben. An der sozialen Oberfläche stimmt alles, denn wie man – ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie – sich benimmt, weiß sie. Sie eilt zu Hilfe, wenn alte Damen schwer an ihren prallen Einkaufstüten tragen, kümmert sich um das Baby der Kollegin, besucht ihren Reitlehrer im Krankenhaus. Das Lächeln nie vergessen: wenn die „Schlampe“ vom Schreibtisch gegenüber etwas fragt, wenn eine „Pissnelke“ sie angrinst, wenn Kunden dumme Fragen stellen.
Doch diese Intimität des fiesen Zungenschlags ist trügerisch, weil auch der Leser längst nicht alles erfährt. Auch die Ironie von Elisas Litanei – „lebe, atme, lebe, atme“ – wird bald fraglich. Denn Michael Stavarič spielt nicht nur mit Floskeln und Erwartungen, sondern auch mit der gewählten Form, dem eigentlich arg in die Jahre gekommenen Bewusstseinsstrom. Stavarič verleiht ihm neuen Glanz: durch seinen trockenen Witz, seinen Sinn für Sein und Schein, seine nur scheinbar naive, tatsächlich wohl eher durchschnittlich verschrobene Protagonistin.
„Ich bin geneigt anzunehmen, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt, Sie doch auch?“ fragt sie einmal den Leser ganz direkt. Ja, Elisa Frankenstein, wir auch. Aber das geht schon in Ordnung. Denn nur weil da etwas nicht stimmt, konnte Michael Stavarič dieses wunderbare Buch darüber schreiben. Was nämlich auch noch toll ist: „stillborn“ lesen.
Michael Stavarič: stillborn. Residenz Verlag, Salzburg 2006. 172 Seiten, 15,90 Euro.
Alois Hotschnigs "Die Kinder beruhigte das nicht"
Und so trennten sie sich
Aus: Stuttgarter Zeitung, 16.6.2006
Ein seltsamer Titel für ein Buch: „Die Kinder beruhigte das nicht“. Bei der Lektüre dieses Erzählungsbandes des österreichischen Autors Alois Hotschnig wird man erfahren, wie passgenau er gewählt ist. Denn den Leser beruhigen diese Geschichten ebenfalls nicht: ein Mensch, der sich in einer Gegenwart wiederfindet, die nicht die seine ist; ein Mann, der auf sich selbst in Puppenform trifft; ein Ehepaar, das täglich die Ankunft von Onkel Walter verspricht, dessen Existenz ganz und gar unsicher ist.
„Wenn ich das Haus verließ, lagen sie auf ihrem Steg, und wenn ich nach Stunden zurückkam, lagen sie immer noch dort“, beginnt die erste der neun Erzählungen. „Sie“ – das sind die Nachbarn drei Gärten weiter, deren entspannte Tatenlosigkeit und Ignoranz ihm gegenüber den Ich-Erzähler langsam aus der Fassung bringt. „Diese Ruhe löste eine Unruhe in mir aus, die zunahm und wuchs und sich zu einer Verstörung auswuchs, mit der ich nicht umgehen konnte.“ Deshalb beobachtet er sie, protokolliert er ihr Verhalten, fotografiert er sie. „So standen sie mir zur Verfügung, wann immer mir danach war.“ Der nächtliche Ausflug zu ihrem Steg scheitert fast in Schlamm und Morast und endet dann abrupt: Es „fehlte mir nun jede Lust, mich auf eine der Liegen zu legen, und so machte ich mich durch die Gärten davon.“
So ist diese Erzählung namens „Dieselbe Stille, dasselbe Geschrei“ der denkbar beste Auftakt für den schmalen, aber schwerwiegenden Band. Denn viel Hotschnig ist darin bereits enthalten. Die samtene Glasklarheit seiner Sprache etwa, die je genauer man hinhört desto befremdlicher klingt; sowie die Spannkraft zwischen Nähe und Ferne, die jede seiner Erzählungen antreibt. Es kann kein Zufall sein, dass einer seiner Protagonisten in einem ihm unbekannten Körper erwacht, Hotschnig ein andermal das Sterben eines Insekts als Tragödie der Kreatur erzählt – der Kafka-Nachdenker ist schon vorher nicht zu überlesen.
Das interessiert Alois Hotschnig: wenn das Normale gruselig-absurd wird, das Unheimliche dagegen zur Normalität mutiert, wenn Objekte die Macht über den Beobachter erlangen und das Wörtchen „Ich“ ganz anderes bedeutet. Nur in der Sprache ist solch eine Widersprüchlichkeit zu fassen: „Neben dem Bett lag ein Laken, das zog ich jetzt ... in einer Bewegung, die nicht die meine war.“ In „Du kennst sie nicht, es sind Fremde“ wechselt einer täglich seine Identität, doch jeweils wird er als Freund willkommen geheißen. „Die Frau kannte er nicht, doch sie sprachen sich aus, und als er glaubte, sie hätte sich beruhigt und sie wären sich einig geworden, meinte sie, dass es an der Zeit wäre, auseinander zu gehen. Das dachte auch er, und so trennten sie sich“.
Irgendetwas ist aus den Fugen geraten, nur was, das kann nicht mehr gesagt werden – weil es immer schon vorbei ist, einfach unmerklich passierte oder aus anderen Gründen schlicht der Wahrnehmung entging. Diesem Etwas schreibt Hotschnig hinterher, jede Erzählung ein neuer, aufregender Versuch der Annäherung. Das unterscheidet den Autor womöglich wenig von anderen Schriftstellern. Allein: Alois Hotschnig ist beunruhigend gut darin.
Alois Hotschnig: Die Kinder beruhigte das nicht. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 128 Seiten, 14,90 Euro.
Aus: Stuttgarter Zeitung, 16.6.2006
Ein seltsamer Titel für ein Buch: „Die Kinder beruhigte das nicht“. Bei der Lektüre dieses Erzählungsbandes des österreichischen Autors Alois Hotschnig wird man erfahren, wie passgenau er gewählt ist. Denn den Leser beruhigen diese Geschichten ebenfalls nicht: ein Mensch, der sich in einer Gegenwart wiederfindet, die nicht die seine ist; ein Mann, der auf sich selbst in Puppenform trifft; ein Ehepaar, das täglich die Ankunft von Onkel Walter verspricht, dessen Existenz ganz und gar unsicher ist.
„Wenn ich das Haus verließ, lagen sie auf ihrem Steg, und wenn ich nach Stunden zurückkam, lagen sie immer noch dort“, beginnt die erste der neun Erzählungen. „Sie“ – das sind die Nachbarn drei Gärten weiter, deren entspannte Tatenlosigkeit und Ignoranz ihm gegenüber den Ich-Erzähler langsam aus der Fassung bringt. „Diese Ruhe löste eine Unruhe in mir aus, die zunahm und wuchs und sich zu einer Verstörung auswuchs, mit der ich nicht umgehen konnte.“ Deshalb beobachtet er sie, protokolliert er ihr Verhalten, fotografiert er sie. „So standen sie mir zur Verfügung, wann immer mir danach war.“ Der nächtliche Ausflug zu ihrem Steg scheitert fast in Schlamm und Morast und endet dann abrupt: Es „fehlte mir nun jede Lust, mich auf eine der Liegen zu legen, und so machte ich mich durch die Gärten davon.“
So ist diese Erzählung namens „Dieselbe Stille, dasselbe Geschrei“ der denkbar beste Auftakt für den schmalen, aber schwerwiegenden Band. Denn viel Hotschnig ist darin bereits enthalten. Die samtene Glasklarheit seiner Sprache etwa, die je genauer man hinhört desto befremdlicher klingt; sowie die Spannkraft zwischen Nähe und Ferne, die jede seiner Erzählungen antreibt. Es kann kein Zufall sein, dass einer seiner Protagonisten in einem ihm unbekannten Körper erwacht, Hotschnig ein andermal das Sterben eines Insekts als Tragödie der Kreatur erzählt – der Kafka-Nachdenker ist schon vorher nicht zu überlesen.
Das interessiert Alois Hotschnig: wenn das Normale gruselig-absurd wird, das Unheimliche dagegen zur Normalität mutiert, wenn Objekte die Macht über den Beobachter erlangen und das Wörtchen „Ich“ ganz anderes bedeutet. Nur in der Sprache ist solch eine Widersprüchlichkeit zu fassen: „Neben dem Bett lag ein Laken, das zog ich jetzt ... in einer Bewegung, die nicht die meine war.“ In „Du kennst sie nicht, es sind Fremde“ wechselt einer täglich seine Identität, doch jeweils wird er als Freund willkommen geheißen. „Die Frau kannte er nicht, doch sie sprachen sich aus, und als er glaubte, sie hätte sich beruhigt und sie wären sich einig geworden, meinte sie, dass es an der Zeit wäre, auseinander zu gehen. Das dachte auch er, und so trennten sie sich“.
Irgendetwas ist aus den Fugen geraten, nur was, das kann nicht mehr gesagt werden – weil es immer schon vorbei ist, einfach unmerklich passierte oder aus anderen Gründen schlicht der Wahrnehmung entging. Diesem Etwas schreibt Hotschnig hinterher, jede Erzählung ein neuer, aufregender Versuch der Annäherung. Das unterscheidet den Autor womöglich wenig von anderen Schriftstellern. Allein: Alois Hotschnig ist beunruhigend gut darin.
Alois Hotschnig: Die Kinder beruhigte das nicht. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 128 Seiten, 14,90 Euro.
Dienstag, Mai 09, 2006
Ralf Bönt: Berliner Stille
Aus: Stuttgarter Zeitung, No.92, 21.4.2006
Jede Geschichte kaum mehr als ein Hauch: Ralf Bönts Erzählungen streifen den Leser, bauschen sich vielleicht ein wenig auf dabei, ein kleiner Windstoß nur. Und schon sind sie wieder vorbei. „Berliner Stille“ heißt der Band, in dem Bönt jetzt neun seiner leichtfüßigen Anekdoten versammelt hat.
Nicht dass Bönt die so genannten großen Themen meiden würde – ganz im Gegenteil: Es geht immer wieder um Tod, Liebe, Gewissen und Fremdheit. Doch spricht Bönt davon wie nebenbei, eine Erwähnung am Rande, der Fluss der Sätze hebt alles in sich auf, ebnet die Gegensätze zwischen wichtig und unwichtig, zwischen Ereignis und dessen Folgen ein. Kleinigkeiten kommen zu ihrer großen Wirkung: Erst hat sie Angst vor dem Gewitter, dann scheitert sie mit ihrem Fahrrad an der Steigung, dann schweigt sie viel und vorwurfsvoll. „‚Was ist denn jetzt schon wieder?’ ‚Nichts’, sagte sie tonlos. Ruckend und jeweils mit einem Stöhnen wirft er dann die Kiesel einen nach dem anderen aufs Meer hinaus.“ Die Erzählung, die so endet, heißt „Steine“.
Solche offenen Pointen setzt Ralf Bönt häufig, solche dichten Sätze, die den Ton eines Auftakts oder einer Zusammenfassung anschlagen, tatsächlich aber mehr Bedeutung versprechen, als sie halten können – das ist vielleicht unvermeidbar, weil einsilbige Sätze am Schluss einer luftigen Geschichte immer schwerer wiegen. Und andererseits eben viel sagen können: Ein Vater hat seinen Sohn verloren, mit dem er früher immer vor dem Fernsehes saß, sobald Fußball lief. Die Geschichte ist ein Monolog des Vaters an sich selbst. Und endet: „Du siehst auf die Uhr, heute abend ist Europapokal, da hast du mal wieder Glück gehabt. Denn den Fußball, den liebst du. Für seine Sinnlosigkeit.“ Eine zynische Schizophrenie ist diese Rede über Glück und Sinnlosigkeit. „Essen“ heißt die Geschichte – weil der Erzähler ißt, während ihm die Erinnerungen kommen und er sich zwischendrin mit dem Dönerbudenbesitzer unterhält.
Ralf Bönt erzählt nie einfach nur Begebenheiten, sondern schweift immer wieder ab, vor allem zurück in die Vergangenheit. In die Gegenwart ragen unvermeidlich Erinnerungen aus alter Zeit hinein. In der titelgebenden Geschichte trifft der Ich-Erzähler auf der Straße einen Bekannten aus früheren Zeiten. „Ich ... nenne ihn nur einen Freund, weil wir damals denselben Schulweg hatten. Ich sollte ihn besser einen Schulkameraden nennen oder einfach einen Mitschüler.“
Während die beiden zusammen Kaffee trinken, gedenkt der Erzähler seiner Wehrdienstverweigerung, einer Bombendrohung in Haifa, seiner Ankunft in New York und später in Berlin, der eigentlichen Hauptstadt dieser Erzählung. Und da erklärt er schließlich, wie sehr das Schreiben und die Stadt zusammengehören: „Ich war nicht aus Gründen nach Berlin gegangen, sondern aus einem Gefühl.“
Das ist es nämlich, was diesen Erzählband – auch im negativen Sinne – auszeichnet: Ein Zuwenig an Reflektion, ein Zuviel an wabernden Assoziationen. Die Realität seiner Melancholie verpufft, verdampft, nein: verduftet deshalb zwischen bedeutungsschweren Belanglosigkeiten. Und ist bereits jetzt spurlos verweht.
Jede Geschichte kaum mehr als ein Hauch: Ralf Bönts Erzählungen streifen den Leser, bauschen sich vielleicht ein wenig auf dabei, ein kleiner Windstoß nur. Und schon sind sie wieder vorbei. „Berliner Stille“ heißt der Band, in dem Bönt jetzt neun seiner leichtfüßigen Anekdoten versammelt hat.
Nicht dass Bönt die so genannten großen Themen meiden würde – ganz im Gegenteil: Es geht immer wieder um Tod, Liebe, Gewissen und Fremdheit. Doch spricht Bönt davon wie nebenbei, eine Erwähnung am Rande, der Fluss der Sätze hebt alles in sich auf, ebnet die Gegensätze zwischen wichtig und unwichtig, zwischen Ereignis und dessen Folgen ein. Kleinigkeiten kommen zu ihrer großen Wirkung: Erst hat sie Angst vor dem Gewitter, dann scheitert sie mit ihrem Fahrrad an der Steigung, dann schweigt sie viel und vorwurfsvoll. „‚Was ist denn jetzt schon wieder?’ ‚Nichts’, sagte sie tonlos. Ruckend und jeweils mit einem Stöhnen wirft er dann die Kiesel einen nach dem anderen aufs Meer hinaus.“ Die Erzählung, die so endet, heißt „Steine“.
Solche offenen Pointen setzt Ralf Bönt häufig, solche dichten Sätze, die den Ton eines Auftakts oder einer Zusammenfassung anschlagen, tatsächlich aber mehr Bedeutung versprechen, als sie halten können – das ist vielleicht unvermeidbar, weil einsilbige Sätze am Schluss einer luftigen Geschichte immer schwerer wiegen. Und andererseits eben viel sagen können: Ein Vater hat seinen Sohn verloren, mit dem er früher immer vor dem Fernsehes saß, sobald Fußball lief. Die Geschichte ist ein Monolog des Vaters an sich selbst. Und endet: „Du siehst auf die Uhr, heute abend ist Europapokal, da hast du mal wieder Glück gehabt. Denn den Fußball, den liebst du. Für seine Sinnlosigkeit.“ Eine zynische Schizophrenie ist diese Rede über Glück und Sinnlosigkeit. „Essen“ heißt die Geschichte – weil der Erzähler ißt, während ihm die Erinnerungen kommen und er sich zwischendrin mit dem Dönerbudenbesitzer unterhält.
Ralf Bönt erzählt nie einfach nur Begebenheiten, sondern schweift immer wieder ab, vor allem zurück in die Vergangenheit. In die Gegenwart ragen unvermeidlich Erinnerungen aus alter Zeit hinein. In der titelgebenden Geschichte trifft der Ich-Erzähler auf der Straße einen Bekannten aus früheren Zeiten. „Ich ... nenne ihn nur einen Freund, weil wir damals denselben Schulweg hatten. Ich sollte ihn besser einen Schulkameraden nennen oder einfach einen Mitschüler.“
Während die beiden zusammen Kaffee trinken, gedenkt der Erzähler seiner Wehrdienstverweigerung, einer Bombendrohung in Haifa, seiner Ankunft in New York und später in Berlin, der eigentlichen Hauptstadt dieser Erzählung. Und da erklärt er schließlich, wie sehr das Schreiben und die Stadt zusammengehören: „Ich war nicht aus Gründen nach Berlin gegangen, sondern aus einem Gefühl.“
Das ist es nämlich, was diesen Erzählband – auch im negativen Sinne – auszeichnet: Ein Zuwenig an Reflektion, ein Zuviel an wabernden Assoziationen. Die Realität seiner Melancholie verpufft, verdampft, nein: verduftet deshalb zwischen bedeutungsschweren Belanglosigkeiten. Und ist bereits jetzt spurlos verweht.
Dienstag, April 11, 2006
Arne Roß: Pauls Fall
Könnte sein, dass Sonntag ist
Aus: Berliner Zeitung, 6.4.2006
„Pauls Fall“ ist ein gar langsames Buch und darin ganz gleich seiner Hauptfigur. Paul also: ein alter Mann mit ersten Anzeichen von Vergesslichkeit, seniler Sturheit und anderen Idiosynkrasien, vor allem, wenn es um Fliegen und Flugzeuge geht. Schwer kommt er hoch von Stuhl und Couch, die Kraft verlässt ihn hin und wieder. So verheddert man sich schon mal im eigenen Mantel: „Im Ausziehen ... blieb er stecken, er hatte versucht, ohne die Hilfe der linken Hand, mit der er den Beutel trug, den Arm aus dem rechten zu ziehen, er hatte sich darin verfangen.“
Der Schriftsteller Arne Roß erzählt auf 192 Seiten einen Tag und im letzten Satz einen Morgen aus dem vergehenden Leben Pauls. Paul stromert durch die Gegend, weil der Supermarkt geschlossen hat. Vielleicht öffnet er auch gar nicht mehr, könnte sein, dass Sonntag ist, Paul weiß das im Moment nicht so genau. Überhaupt kommt vieles anders als es sollte. Das mit dem Kuchen etwa, den ihm seine Frau, die nur als anonyme Variable „G.“ vorkommt, für Professor Schneider mitgegeben hat. Paul verzehrt ihn im Wald, auf einem weggeworfenen Kühlschrank sitzend. „Jetzt aß er, er aß langsam. Mit spitzen Fingern sammelte er die Krümel zusammen und legte sie sich auf die Zunge.“
Desweiteren geschieht: ein zielloser Plausch mit dem Nachbarn Dr. Frost, ein Laternenumzug vor dem Haus einer Freundin, ein versehentlich eingestecktes Feuerzeug, eine warme Badewanne am Abend. Auf seinem Spaziergang grüßt Paul oft: die Frau in dem Auto, den Busfahrer, den Soldaten im Gebüsch. Selten antwortet ihm einer.
Doch „Pauls Fall“ ist kein Rührstück über einen einsamen Senior. Denn Roß hat tatsächlich eine regelrechte Fallstudie verfasst. Er ist der teilnehmende Beobachter, notiert in jedem einzelnen Moment gewissen- und ernsthaft, was Paul sagt, wahrnimmt und tut. Jede Drehung des Kopfes, jede Ameise und jedes Blatt, das Paul erblickt, vielmehr: bedächtig heranzoomt. Was sieht der alles, was dem Leser in der eigenen Wirklichkeit entgeht: Wimpern und Wolkenfetzen, einzelne Sonnenstrahlen und Speichelfäden.
Von schweifenden Gedanken oder gar Emotionen dagegen kaum eine Spur. „Pauls Fall“ ist ein grandioser Einspruch gegen jegliche Bewusstseins-Versessenheit, ein nachhaltig beeindruckendes Plädoyer für eine erneute Entdeckung nicht nur der Langsamkeit in der Literatur, sondern auch der Poesie der äußeren Erscheinungen. Denn Roß porträtiert eben keine Welt im Ich. Sondern einen Menschen in seiner Welt. Ein wahrhaft seinen Bedingungen unterworfenes Subjekt. Deshalb ist die Natur so prominent in dieser dichten Beschreibung: Das Altern ist der wohl sichtbarste Beweis ihrer Unabwendbarkeit. Und obwohl man im Alter mehr Zeit zu haben scheint, drängt sie dennoch, weil einem immer weniger von ihr bleibt. So treibt gerade die obsessive Genauigkeit den Roman unaufhörlich vorwärts, die Leere spannt sich zum Zerreißen, die Ruhe wird verdächtig – schließlich muss ihr irgendwann der sprichwörtliche Sturm folgen.
Eine solch anhaltend erwartungsgeladene Stille umgab auch den Autor selbst: 1999 erschien sein Erstling über eine ebenfalls schon in die Jahre gekommene Dame namens „Frau Arlette“, dann lange nichts. „They also serve who only stand and wait“, lautet der Vers John Miltons, den Roß „Pauls Fall“ als Motto vorangestellt hat – als wollte er sich verteidigen, dass er sieben Jahre für die Geschichte eines anders Aufmerksamen brauchte. Dass sich das Warten lohnen wird, ahnte man natürlich längst – das Paradies wird kaum verloren gehen, wenn einer so erzählen kann. Und eine wunderbare Überraschung ist es doch, diesen außergewöhnlichen Ton endlich wieder zu vernehmen. Die Zeit meint es offensichtlich ganz besonders gut mit Arne Roß.
Aus: Berliner Zeitung, 6.4.2006
„Pauls Fall“ ist ein gar langsames Buch und darin ganz gleich seiner Hauptfigur. Paul also: ein alter Mann mit ersten Anzeichen von Vergesslichkeit, seniler Sturheit und anderen Idiosynkrasien, vor allem, wenn es um Fliegen und Flugzeuge geht. Schwer kommt er hoch von Stuhl und Couch, die Kraft verlässt ihn hin und wieder. So verheddert man sich schon mal im eigenen Mantel: „Im Ausziehen ... blieb er stecken, er hatte versucht, ohne die Hilfe der linken Hand, mit der er den Beutel trug, den Arm aus dem rechten zu ziehen, er hatte sich darin verfangen.“
Der Schriftsteller Arne Roß erzählt auf 192 Seiten einen Tag und im letzten Satz einen Morgen aus dem vergehenden Leben Pauls. Paul stromert durch die Gegend, weil der Supermarkt geschlossen hat. Vielleicht öffnet er auch gar nicht mehr, könnte sein, dass Sonntag ist, Paul weiß das im Moment nicht so genau. Überhaupt kommt vieles anders als es sollte. Das mit dem Kuchen etwa, den ihm seine Frau, die nur als anonyme Variable „G.“ vorkommt, für Professor Schneider mitgegeben hat. Paul verzehrt ihn im Wald, auf einem weggeworfenen Kühlschrank sitzend. „Jetzt aß er, er aß langsam. Mit spitzen Fingern sammelte er die Krümel zusammen und legte sie sich auf die Zunge.“
Desweiteren geschieht: ein zielloser Plausch mit dem Nachbarn Dr. Frost, ein Laternenumzug vor dem Haus einer Freundin, ein versehentlich eingestecktes Feuerzeug, eine warme Badewanne am Abend. Auf seinem Spaziergang grüßt Paul oft: die Frau in dem Auto, den Busfahrer, den Soldaten im Gebüsch. Selten antwortet ihm einer.
Doch „Pauls Fall“ ist kein Rührstück über einen einsamen Senior. Denn Roß hat tatsächlich eine regelrechte Fallstudie verfasst. Er ist der teilnehmende Beobachter, notiert in jedem einzelnen Moment gewissen- und ernsthaft, was Paul sagt, wahrnimmt und tut. Jede Drehung des Kopfes, jede Ameise und jedes Blatt, das Paul erblickt, vielmehr: bedächtig heranzoomt. Was sieht der alles, was dem Leser in der eigenen Wirklichkeit entgeht: Wimpern und Wolkenfetzen, einzelne Sonnenstrahlen und Speichelfäden.
Von schweifenden Gedanken oder gar Emotionen dagegen kaum eine Spur. „Pauls Fall“ ist ein grandioser Einspruch gegen jegliche Bewusstseins-Versessenheit, ein nachhaltig beeindruckendes Plädoyer für eine erneute Entdeckung nicht nur der Langsamkeit in der Literatur, sondern auch der Poesie der äußeren Erscheinungen. Denn Roß porträtiert eben keine Welt im Ich. Sondern einen Menschen in seiner Welt. Ein wahrhaft seinen Bedingungen unterworfenes Subjekt. Deshalb ist die Natur so prominent in dieser dichten Beschreibung: Das Altern ist der wohl sichtbarste Beweis ihrer Unabwendbarkeit. Und obwohl man im Alter mehr Zeit zu haben scheint, drängt sie dennoch, weil einem immer weniger von ihr bleibt. So treibt gerade die obsessive Genauigkeit den Roman unaufhörlich vorwärts, die Leere spannt sich zum Zerreißen, die Ruhe wird verdächtig – schließlich muss ihr irgendwann der sprichwörtliche Sturm folgen.
Eine solch anhaltend erwartungsgeladene Stille umgab auch den Autor selbst: 1999 erschien sein Erstling über eine ebenfalls schon in die Jahre gekommene Dame namens „Frau Arlette“, dann lange nichts. „They also serve who only stand and wait“, lautet der Vers John Miltons, den Roß „Pauls Fall“ als Motto vorangestellt hat – als wollte er sich verteidigen, dass er sieben Jahre für die Geschichte eines anders Aufmerksamen brauchte. Dass sich das Warten lohnen wird, ahnte man natürlich längst – das Paradies wird kaum verloren gehen, wenn einer so erzählen kann. Und eine wunderbare Überraschung ist es doch, diesen außergewöhnlichen Ton endlich wieder zu vernehmen. Die Zeit meint es offensichtlich ganz besonders gut mit Arne Roß.
Last & Lost
Was bleibt von den Schauplätzen der Geschichte?
Aus: Nürnberger Nachrichten, 4.4.2006
Sie stockt manchmal, sucht nach dem richtigen Wort, ihr Englisch ist lückenhaft. In einen dunklen, bodenlangen Mantel gehüllt erschließt sie in abmessenden Schritten ein Stück grüne, blumenlose Wiese, sie deutet mal dahin, mal dorthin. „Hier kam man rein, und dann war gleich rechts die Toilette.“ Nichts außer diesen Skizzen in die Luft: Das Haus der Großeltern in Sarajevo ist Geschichte, über die längst Gras gewachsen ist. „Green Green Grass of Home“ heißt dieses Video von Maja Bajevic und Emanuel Licha, das wie alle anderen Arbeiten der Ausstellung „Last & Lost“ im Münchner Literaturhaus fragt: Was bleibt von den Schauplätzen der Historie?
Unter dem Titel „Last & Lost – Unterwegs durch ein verschwindendes Europa“ haben die polnische Verlegerin Katharina Sznajderman und die deutsche Lektorin Katharina Raabe ein Großprojekt in Gang gesetzt, ein Symposium fand im März in Berlin statt. Was bleibt: bis Ende April eine Ausstellung im Münchner Literaturhaus und ein Buch selben Namens: „Last & Lost – Ein Atlas des verschwindenden Europas“. Beide haben die größte Aufmerksamkeit verdient.
Titel wie „Islands“, „Peripheries“ oder „End of Europe“ prägen die Fotoserien und Videoarbeiten der 15 in München vertretenen Künstler: An Abbrüchen, Rändern, Übergängen finden sich die Orte, an denen die einstige Präsenz von Geschichte (und unser Umgang damit) augenfällig wird – im Verfall. Vesselina Nioklaeva hat die Grenzanlagen zwischen der Türkei und Bulgarien fotografiert. Vielmehr was davon noch zu sehen ist: niedergetrampelter Zaun, verrostete Schilder, ein offenes Tor. Milan Aleksic hat die Spuren mehrere Kriege festgehalten: ein zerfetztes Hochaus, ein umgeknicktes Kreuz, ein Hoffnungsloser auf einer Straßenkreuzung. Den Charme des Verrottens in Hochglanz haben auch Dik Bouwhuis, Catarina Botelho und Renate Niebler entdeckt. Niebler hat die Maxhütte fotografiert, weit blickt der Betrachter in eine scheinbar unendliche Tiefe der Hallen; Kräne, Stützen, Übergänge ragen hindurch; der Boden ein Meer aus Stahlschrott, Platten, Schienen, Rohren, Blechen, scharfen und stumpfen Kanten.
Für das begleitende Buch (in dem sich auch ein Teil der Fotografien wiederfindet) haben sich wieder 15, diesmal Autoren, aufgemacht, um die „Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat“ (Andrej Stasiuk), wenigstens in Texten aufzuheben. Dabei sind wundervolle Reportagen entstanden. Von Vetle Lid Larssen etwa, der nach Vardo fuhr, einem Dorf auf einem Landzipfel ganz im Nordosten Norwegens. Auf der Suche nach dem sagenhaften Eingang der Hölle landet er in dem fast völlig verlassenen Ort. Um am Ende zu erkennen: „Auch die Hölle ist weggezogen.“
Von den Hakenschlägen der Historie erzählen auch Marius Ivaskevicius, Lavinia Greenlaw, Mircea Cartarescu und Svetlana Vasilenko, auch Texte von Christoph Ransmayr, Juri Andruchowytsch und Dagmar Leupold sind in diesem Band – man möchte sie alle nacherzählen. Weil sie nur ganz selten einem konservierenden Kitsch verfallen, sondern mit Sachverstand und schönen Worten an Orte erinnern, die viel zu schnell und gern ad acta gelegt wurden. Die man nach der Lektüre aber endlich nicht mehr aus dem Kopf bekommt: Wershbolowo, Ada-Kaleh, Kapustin Jar, TÜPL Allentsteig, Hohenlychen – alles Metaphern für vergangene Zeiten. Und als solche werden sie nie verloren gehen.
Last & Lost. Bilder eines verschwindenden Europas. Bis 30. April im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Mo-Fr 11-19 Uhr; Sa/So 10-18 Uhr; Tel.: 089-291934-0
Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 336 Seiten, 29,80 Euro.
Aus: Nürnberger Nachrichten, 4.4.2006
Sie stockt manchmal, sucht nach dem richtigen Wort, ihr Englisch ist lückenhaft. In einen dunklen, bodenlangen Mantel gehüllt erschließt sie in abmessenden Schritten ein Stück grüne, blumenlose Wiese, sie deutet mal dahin, mal dorthin. „Hier kam man rein, und dann war gleich rechts die Toilette.“ Nichts außer diesen Skizzen in die Luft: Das Haus der Großeltern in Sarajevo ist Geschichte, über die längst Gras gewachsen ist. „Green Green Grass of Home“ heißt dieses Video von Maja Bajevic und Emanuel Licha, das wie alle anderen Arbeiten der Ausstellung „Last & Lost“ im Münchner Literaturhaus fragt: Was bleibt von den Schauplätzen der Historie?
Unter dem Titel „Last & Lost – Unterwegs durch ein verschwindendes Europa“ haben die polnische Verlegerin Katharina Sznajderman und die deutsche Lektorin Katharina Raabe ein Großprojekt in Gang gesetzt, ein Symposium fand im März in Berlin statt. Was bleibt: bis Ende April eine Ausstellung im Münchner Literaturhaus und ein Buch selben Namens: „Last & Lost – Ein Atlas des verschwindenden Europas“. Beide haben die größte Aufmerksamkeit verdient.
Titel wie „Islands“, „Peripheries“ oder „End of Europe“ prägen die Fotoserien und Videoarbeiten der 15 in München vertretenen Künstler: An Abbrüchen, Rändern, Übergängen finden sich die Orte, an denen die einstige Präsenz von Geschichte (und unser Umgang damit) augenfällig wird – im Verfall. Vesselina Nioklaeva hat die Grenzanlagen zwischen der Türkei und Bulgarien fotografiert. Vielmehr was davon noch zu sehen ist: niedergetrampelter Zaun, verrostete Schilder, ein offenes Tor. Milan Aleksic hat die Spuren mehrere Kriege festgehalten: ein zerfetztes Hochaus, ein umgeknicktes Kreuz, ein Hoffnungsloser auf einer Straßenkreuzung. Den Charme des Verrottens in Hochglanz haben auch Dik Bouwhuis, Catarina Botelho und Renate Niebler entdeckt. Niebler hat die Maxhütte fotografiert, weit blickt der Betrachter in eine scheinbar unendliche Tiefe der Hallen; Kräne, Stützen, Übergänge ragen hindurch; der Boden ein Meer aus Stahlschrott, Platten, Schienen, Rohren, Blechen, scharfen und stumpfen Kanten.
Für das begleitende Buch (in dem sich auch ein Teil der Fotografien wiederfindet) haben sich wieder 15, diesmal Autoren, aufgemacht, um die „Orte, die man der Zeit zum Fraß vorgeworfen hat“ (Andrej Stasiuk), wenigstens in Texten aufzuheben. Dabei sind wundervolle Reportagen entstanden. Von Vetle Lid Larssen etwa, der nach Vardo fuhr, einem Dorf auf einem Landzipfel ganz im Nordosten Norwegens. Auf der Suche nach dem sagenhaften Eingang der Hölle landet er in dem fast völlig verlassenen Ort. Um am Ende zu erkennen: „Auch die Hölle ist weggezogen.“
Von den Hakenschlägen der Historie erzählen auch Marius Ivaskevicius, Lavinia Greenlaw, Mircea Cartarescu und Svetlana Vasilenko, auch Texte von Christoph Ransmayr, Juri Andruchowytsch und Dagmar Leupold sind in diesem Band – man möchte sie alle nacherzählen. Weil sie nur ganz selten einem konservierenden Kitsch verfallen, sondern mit Sachverstand und schönen Worten an Orte erinnern, die viel zu schnell und gern ad acta gelegt wurden. Die man nach der Lektüre aber endlich nicht mehr aus dem Kopf bekommt: Wershbolowo, Ada-Kaleh, Kapustin Jar, TÜPL Allentsteig, Hohenlychen – alles Metaphern für vergangene Zeiten. Und als solche werden sie nie verloren gehen.
Last & Lost. Bilder eines verschwindenden Europas. Bis 30. April im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Mo-Fr 11-19 Uhr; Sa/So 10-18 Uhr; Tel.: 089-291934-0
Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 336 Seiten, 29,80 Euro.
Donnerstag, Februar 23, 2006
feridun zaimoglu: leyla
Von Anatolien nach Deutschland
Eine türkische Frauengeschichte: Feridun Zaimoglus Herz schlägt für "Leyla"
Aus: Berliner Zeitung, 23. Februar 2006
Es herrscht das Gesetz des Vaters; der Koreakrieg sorgt für Dispute; Frauen, die auffallend gekleidet sind, werden schief angeschaut; die große Stadt ist für die Landbewohner ein Mythos, die Liebe für Teenager ein großes Rätsel - und wie man sie ausübt ein noch größeres. Klingt gar nicht so fremd für deutsche Ohren. Und doch sind wir in Anatolien in den 50er-Jahren.
Feridun Zaimoglu ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen deutscher Gegenwart: In "Kanak Sprak" protokollierte er die Reden der Kinder türkischer Einwanderer, vermischte allerdings ununterscheidbar eigene und fremde Rede. Darauf folgte "Koppstoff - Kanaka Sprak", die weibliche Variante des grellen Türkdeutschs. Mit seinem neuen Roman "Leyla" hat er sich jetzt auf die Suche nach der Vergangenheit begeben. Und dafür wieder den Frauen gelauscht, mit Tanten und Kusinen gesprochen. Denn Leyla ist Zaimoglus Ich-Erzählerin. "Dies ist eine Geschichte aus der alten Zeit. Es ist aber keine alte Geschichte", beginnt der Roman.
Zaimoglus Sprache tönt noch aufregender "anders" als in seinen früheren Veröffentlichungen, die Wendung zurück hat ihm nur gut getan. Nüchtern die Melodie, die Worte bunt bis blumig hinein getupft und gekleckert, die Melancholie kleidet sich so ironisch wie verklärend. Ein Epos in Episoden, keine ausschließlich schöne Geschichte, doch auf jeder einzelnen Seite wunderschön erzählt.
Leylas Familie ist arm wie beinahe jeder in ihrem Dorf, statt eines Ehebetts gibt es eine "Ehematratze". Nur wissen darf das keiner, nach dem Essen benutzt man Zahnstocher, "damit die Leute glaubten, es habe bei uns Fleisch zu Mittag gegeben." Worüber ebenfalls alle in Kenntnis schweigen: Vater Halid verprügelt seine Frau und seine Kinder, weil er Angst mit Achtung verwechselt. "Nährvater" oder "Mann meiner Mutter" nennt Leyla ihn.
In der Öffentlichkeit wird Halid oft verspottet, denn mit den neuen Zeiten kommt er nicht zurecht. Die Aufschrift auf seiner Visitenkarte - "Export-Import AMERIKA" - ist nicht mehr als eine Traumschrift: Bei Geschäften wird er beständig übers Ohr gehauen. Davon erfährt der Leser nicht nur aus Leylas Perspektive: Feridun Zaimoglu hat ihr noch eine allwissende beiseite gestellt, die aus der Welt der Männer berichtet - rohe Worte für eine rohe Gesellschaft.
Eine kleine Weile genießt Leylas Familie das Glück des abwesenden Patriarchen: Halid muss ins Gefängnis, weil er wieder einmal den Versprechungen vom großen Geld aufgesessen ist. Als Djengis, der älteste Sohn, meint, er müsse alle Verstöße gegen des Vaters Regeln für den späteren Rapport festhalten, weist ihn die Mutter endlich in die Schranken: "Mein Sohn ... ich liebe dich, ich gebe mein Leben für dich hin. Doch ich lege jedem Verräter das Henkerseil um den Hals, auch wenn er mein Sohn ist."
Das fasziniert Zaimolgu unhaltbar an den Frauen: die Leidenschaft mit Gewaltpotential, der unbeugsame Familiensinn, die poetische Zärtlichkeit, das Aroma der Schönheit, die Selbstbeherrschung bis zur Selbstaufgabe. Die Passagen über das Frauenbaden im dampfend duftigen Hamam und die surrealen Traumbilder der Mutter gehören deshalb zu den leuchtendsten in diesem Buch. Und selbst den anatolischen Zicken huldigt der Autor noch aus lauter Neid auf ihre Welt.
Schließlich entdeckt er in den Rückzugsräumen des Weiblichen auch die Komik der ewigen Anständigkeiten: Wenn im Kreise junger Mädchen von "Dasdaunten" die Rede ist, wird schon mal in Ohnmacht gefallen; als Leylas Schwester Selda sie an ihren heimlichen Beobachtungen der verruchten Ipek Hanim teilhaben lässt, erschrickt Leyla fürchterlich darüber, dass Ipek Hanim sich eine Zigarette anzündet. "Habe ich dir zuviel versprochen?" fragt Selda dann stolz. Der mehrtägige Ausflug ins kurdische Heimatdorf von Leylas Freundin Manolya ist beste pubertäre Winnetou-Romantik.
Da geht Zaimoglus Travestie auf - stets ist er auf der Augenhöhe seiner Erzählerin, wohl weil er exzellent recherchierte im Familienkreis und deshalb spürbar sein ganzes Herz in diesem Buch steckt.
So lässt die Liebe nicht länger auf sich warten, erste Umbrüche im Privaten: Die Familie zieht nach Istanbul, Metin, "der Schöne", hält um Leylas Hand an. Beim ersten Mal, da die beiden unter vier Augen, ohne Väter, Mütter, Schwestern, Tanten, Großmütter, Großtanten, miteinander sprechen, herrscht zunächst Stille, eine halbe Stunde lang, dann beginnt ein herrlich verklemmter Flirt: "Meine Dame, ich muss mich fragen, ob ich Ihnen gerecht werde ... das wird wegen ihrer Schönheit unmöglich sein". Doch Leyla lässt sich nicht so leicht um den Finger wickeln. "Mein Herr, sage ich, ich will von Ihnen elektrische Liebesgaben - damit wir uns richtig verstehen." So sehen sie aus, die erotischen Übersprunghandlungen in Zeiten zarter Modernisierung.
Metin will weg aus der Türkei, nach Deutschland. "Die Menschen dort ... greifen nicht gleich zum Messer, wenn ein Streit ausbricht. Sie riechen alle nach Seife", schwärmt er, bevor er überhaupt dort war. Er zieht weg ins von ihm so pausenlos gelobte Land, holt dann Leyla, beider eben geborenen Sohn und Leylas Mutter nach. Der Sohn hat noch keinen Namen, erst in Deutschland soll er ihn bekommen. "Ein radikaler Neubeginn. Meine Güte, nicht dumm", kommentiert Freundin Manolya.
Wie hätte Feridun Zaimoglu ihn auch nennen sollen? "Feridun" wäre wohl zuviel der Realität gewesen, alles andere aber verkehrt - der Autor kam selbst als kleines Kind an der Hand seiner türkischen Mutter nach Deutschland dem Vater nachgereist und blieb. So hat sich Feridun Zaimoglu mit "Leyla" nicht nur seine Vorgeschichte erschrieben. Sondern vor allem einen Namen für die Zukunft, einen, den man längst kannte, jetzt jedoch deutlich schwerer wiegt. Meine Güte, nicht dumm.
Eine türkische Frauengeschichte: Feridun Zaimoglus Herz schlägt für "Leyla"
Aus: Berliner Zeitung, 23. Februar 2006
Es herrscht das Gesetz des Vaters; der Koreakrieg sorgt für Dispute; Frauen, die auffallend gekleidet sind, werden schief angeschaut; die große Stadt ist für die Landbewohner ein Mythos, die Liebe für Teenager ein großes Rätsel - und wie man sie ausübt ein noch größeres. Klingt gar nicht so fremd für deutsche Ohren. Und doch sind wir in Anatolien in den 50er-Jahren.
Feridun Zaimoglu ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen deutscher Gegenwart: In "Kanak Sprak" protokollierte er die Reden der Kinder türkischer Einwanderer, vermischte allerdings ununterscheidbar eigene und fremde Rede. Darauf folgte "Koppstoff - Kanaka Sprak", die weibliche Variante des grellen Türkdeutschs. Mit seinem neuen Roman "Leyla" hat er sich jetzt auf die Suche nach der Vergangenheit begeben. Und dafür wieder den Frauen gelauscht, mit Tanten und Kusinen gesprochen. Denn Leyla ist Zaimoglus Ich-Erzählerin. "Dies ist eine Geschichte aus der alten Zeit. Es ist aber keine alte Geschichte", beginnt der Roman.
Zaimoglus Sprache tönt noch aufregender "anders" als in seinen früheren Veröffentlichungen, die Wendung zurück hat ihm nur gut getan. Nüchtern die Melodie, die Worte bunt bis blumig hinein getupft und gekleckert, die Melancholie kleidet sich so ironisch wie verklärend. Ein Epos in Episoden, keine ausschließlich schöne Geschichte, doch auf jeder einzelnen Seite wunderschön erzählt.
Leylas Familie ist arm wie beinahe jeder in ihrem Dorf, statt eines Ehebetts gibt es eine "Ehematratze". Nur wissen darf das keiner, nach dem Essen benutzt man Zahnstocher, "damit die Leute glaubten, es habe bei uns Fleisch zu Mittag gegeben." Worüber ebenfalls alle in Kenntnis schweigen: Vater Halid verprügelt seine Frau und seine Kinder, weil er Angst mit Achtung verwechselt. "Nährvater" oder "Mann meiner Mutter" nennt Leyla ihn.
In der Öffentlichkeit wird Halid oft verspottet, denn mit den neuen Zeiten kommt er nicht zurecht. Die Aufschrift auf seiner Visitenkarte - "Export-Import AMERIKA" - ist nicht mehr als eine Traumschrift: Bei Geschäften wird er beständig übers Ohr gehauen. Davon erfährt der Leser nicht nur aus Leylas Perspektive: Feridun Zaimoglu hat ihr noch eine allwissende beiseite gestellt, die aus der Welt der Männer berichtet - rohe Worte für eine rohe Gesellschaft.
Eine kleine Weile genießt Leylas Familie das Glück des abwesenden Patriarchen: Halid muss ins Gefängnis, weil er wieder einmal den Versprechungen vom großen Geld aufgesessen ist. Als Djengis, der älteste Sohn, meint, er müsse alle Verstöße gegen des Vaters Regeln für den späteren Rapport festhalten, weist ihn die Mutter endlich in die Schranken: "Mein Sohn ... ich liebe dich, ich gebe mein Leben für dich hin. Doch ich lege jedem Verräter das Henkerseil um den Hals, auch wenn er mein Sohn ist."
Das fasziniert Zaimolgu unhaltbar an den Frauen: die Leidenschaft mit Gewaltpotential, der unbeugsame Familiensinn, die poetische Zärtlichkeit, das Aroma der Schönheit, die Selbstbeherrschung bis zur Selbstaufgabe. Die Passagen über das Frauenbaden im dampfend duftigen Hamam und die surrealen Traumbilder der Mutter gehören deshalb zu den leuchtendsten in diesem Buch. Und selbst den anatolischen Zicken huldigt der Autor noch aus lauter Neid auf ihre Welt.
Schließlich entdeckt er in den Rückzugsräumen des Weiblichen auch die Komik der ewigen Anständigkeiten: Wenn im Kreise junger Mädchen von "Dasdaunten" die Rede ist, wird schon mal in Ohnmacht gefallen; als Leylas Schwester Selda sie an ihren heimlichen Beobachtungen der verruchten Ipek Hanim teilhaben lässt, erschrickt Leyla fürchterlich darüber, dass Ipek Hanim sich eine Zigarette anzündet. "Habe ich dir zuviel versprochen?" fragt Selda dann stolz. Der mehrtägige Ausflug ins kurdische Heimatdorf von Leylas Freundin Manolya ist beste pubertäre Winnetou-Romantik.
Da geht Zaimoglus Travestie auf - stets ist er auf der Augenhöhe seiner Erzählerin, wohl weil er exzellent recherchierte im Familienkreis und deshalb spürbar sein ganzes Herz in diesem Buch steckt.
So lässt die Liebe nicht länger auf sich warten, erste Umbrüche im Privaten: Die Familie zieht nach Istanbul, Metin, "der Schöne", hält um Leylas Hand an. Beim ersten Mal, da die beiden unter vier Augen, ohne Väter, Mütter, Schwestern, Tanten, Großmütter, Großtanten, miteinander sprechen, herrscht zunächst Stille, eine halbe Stunde lang, dann beginnt ein herrlich verklemmter Flirt: "Meine Dame, ich muss mich fragen, ob ich Ihnen gerecht werde ... das wird wegen ihrer Schönheit unmöglich sein". Doch Leyla lässt sich nicht so leicht um den Finger wickeln. "Mein Herr, sage ich, ich will von Ihnen elektrische Liebesgaben - damit wir uns richtig verstehen." So sehen sie aus, die erotischen Übersprunghandlungen in Zeiten zarter Modernisierung.
Metin will weg aus der Türkei, nach Deutschland. "Die Menschen dort ... greifen nicht gleich zum Messer, wenn ein Streit ausbricht. Sie riechen alle nach Seife", schwärmt er, bevor er überhaupt dort war. Er zieht weg ins von ihm so pausenlos gelobte Land, holt dann Leyla, beider eben geborenen Sohn und Leylas Mutter nach. Der Sohn hat noch keinen Namen, erst in Deutschland soll er ihn bekommen. "Ein radikaler Neubeginn. Meine Güte, nicht dumm", kommentiert Freundin Manolya.
Wie hätte Feridun Zaimoglu ihn auch nennen sollen? "Feridun" wäre wohl zuviel der Realität gewesen, alles andere aber verkehrt - der Autor kam selbst als kleines Kind an der Hand seiner türkischen Mutter nach Deutschland dem Vater nachgereist und blieb. So hat sich Feridun Zaimoglu mit "Leyla" nicht nur seine Vorgeschichte erschrieben. Sondern vor allem einen Namen für die Zukunft, einen, den man längst kannte, jetzt jedoch deutlich schwerer wiegt. Meine Güte, nicht dumm.
Montag, Januar 23, 2006
Anne Weber: "Gold im Mund"
Aus: Berliner Zeitung, 19.1.2006
Selbstporträt einer Ameise
Anne Webers Kapitalismuskritik im Zahnlabor
Katrin Schuster
Viel zu lange hat man nichts gehört von Bleistiftspitzern, Ärmelschonern und festen Arbeitszeiten - fast schien es, als hätte das Büro als literarischer Ort ausgedient. Bis Anne Weber sich mit "Gold im Mund" gut hundert Jahre nach Robert Walsers Sammlung der fiktiven Schulaufsätze "Fritz Kochers" wieder der Angestellten angenommen hat. "Um in der Welt ein rechtschaffenes Leben führen zu können, muß man einen Beruf haben. Man kann nicht nur so in den Tag hineinarbeiten. Die Arbeit muß ihren bestimmten Charakter und einen Zweck haben, zu dem sie führen soll. Um das zu erreichen, wählt man einen Beruf." Sagt Fritz Kocher und wählt "ein Bureau."
Als Anne Weber noch "statt Geld in Zeit, Zeit in Geld umtauschte und unter diesem Tausch täglich litt" schrieb sie mit "Liebe Vögel" eine eisig klare Tirade in 31 Kolumnen: "Wie ich euch hasse, liebe Freunde und Kollegen, wie ich euch jeden Tag aufs neue, Rächerin und Kannibalin, mit meinem Brieföffner durchbohre."
Für "Gold im Mund" ist sie ins Büro zurückgekehrt. In Walsers Geburtsort, der Schweizer Kleinstadt Biel, erbat sie bei "Cendres & Métaux" in der Abteilung für Zahnersatz einen Schreibtisch im Großraumbüro. Ganz im Ton Walsers gestelzter Naivität, vermeintlich unfreiwillig entlarvender Komik und schelmischer Durchtriebenheit notiert sie: "Über jedem der halbhohen Büromöbel schwebt ein Kopf, der manchmal von seinem Besitzer in die Luft gehoben und durch die Gänge getragen wird. Es gefällt mir, daß ich jetzt einer dieser schwebenden Köpfe bin, daß ich an diesem blanken, reinlichen, wohlgeordneten Leben Anteil haben darf."
Ins literarische Tagesgeschäft passt das immer noch nicht: Eine, die mit vorgegebener Tolpatschigkeit vielfach schlauer als ihre räsonnierenden Kollegen sowohl die stillen Übereinkünfte und ungeschriebenen Gesetze des Zusammenlebens und -arbeitens als auch das No-Alternative-Denken des Neoliberalismus erschüttert und oft genug mit einem heiteren Unschuldslammlächeln im Gesicht in sich zusammenstürzen lässt.
Und weil das Befremden angesichts der Entfremdung längst nicht mehr so authentisch daher kommen kann wie noch bei Robert Walser, verschwendet Anne Weber heillos Worte, Figuren, Einfälle. Es geht um nichts in diesem Text, und daher um alles: Gibt es eindeutige Beweise für die Existenz des viel zitierten Direktors? Wie sähe das Selbstporträt einer Ameise aus? Sind Büropflanzen womöglich die einzig wahren Kommunisten? Zum Glück verpflichtet noch kein Gesetz auf Stringenz: "Solange es sie noch gibt, nutze ich die Rechtslücke aus, um ein Buch zu schreiben, in dem es um nichts, jedenfalls um nichts Resümierbares geht."
Womit all den kapitalistischen Rationalisierungs- und Nützlichkeitsgeboten am nachhaltigsten widersprochen wäre.
Selbstporträt einer Ameise
Anne Webers Kapitalismuskritik im Zahnlabor
Katrin Schuster
Viel zu lange hat man nichts gehört von Bleistiftspitzern, Ärmelschonern und festen Arbeitszeiten - fast schien es, als hätte das Büro als literarischer Ort ausgedient. Bis Anne Weber sich mit "Gold im Mund" gut hundert Jahre nach Robert Walsers Sammlung der fiktiven Schulaufsätze "Fritz Kochers" wieder der Angestellten angenommen hat. "Um in der Welt ein rechtschaffenes Leben führen zu können, muß man einen Beruf haben. Man kann nicht nur so in den Tag hineinarbeiten. Die Arbeit muß ihren bestimmten Charakter und einen Zweck haben, zu dem sie führen soll. Um das zu erreichen, wählt man einen Beruf." Sagt Fritz Kocher und wählt "ein Bureau."
Als Anne Weber noch "statt Geld in Zeit, Zeit in Geld umtauschte und unter diesem Tausch täglich litt" schrieb sie mit "Liebe Vögel" eine eisig klare Tirade in 31 Kolumnen: "Wie ich euch hasse, liebe Freunde und Kollegen, wie ich euch jeden Tag aufs neue, Rächerin und Kannibalin, mit meinem Brieföffner durchbohre."
Für "Gold im Mund" ist sie ins Büro zurückgekehrt. In Walsers Geburtsort, der Schweizer Kleinstadt Biel, erbat sie bei "Cendres & Métaux" in der Abteilung für Zahnersatz einen Schreibtisch im Großraumbüro. Ganz im Ton Walsers gestelzter Naivität, vermeintlich unfreiwillig entlarvender Komik und schelmischer Durchtriebenheit notiert sie: "Über jedem der halbhohen Büromöbel schwebt ein Kopf, der manchmal von seinem Besitzer in die Luft gehoben und durch die Gänge getragen wird. Es gefällt mir, daß ich jetzt einer dieser schwebenden Köpfe bin, daß ich an diesem blanken, reinlichen, wohlgeordneten Leben Anteil haben darf."
Ins literarische Tagesgeschäft passt das immer noch nicht: Eine, die mit vorgegebener Tolpatschigkeit vielfach schlauer als ihre räsonnierenden Kollegen sowohl die stillen Übereinkünfte und ungeschriebenen Gesetze des Zusammenlebens und -arbeitens als auch das No-Alternative-Denken des Neoliberalismus erschüttert und oft genug mit einem heiteren Unschuldslammlächeln im Gesicht in sich zusammenstürzen lässt.
Und weil das Befremden angesichts der Entfremdung längst nicht mehr so authentisch daher kommen kann wie noch bei Robert Walser, verschwendet Anne Weber heillos Worte, Figuren, Einfälle. Es geht um nichts in diesem Text, und daher um alles: Gibt es eindeutige Beweise für die Existenz des viel zitierten Direktors? Wie sähe das Selbstporträt einer Ameise aus? Sind Büropflanzen womöglich die einzig wahren Kommunisten? Zum Glück verpflichtet noch kein Gesetz auf Stringenz: "Solange es sie noch gibt, nutze ich die Rechtslücke aus, um ein Buch zu schreiben, in dem es um nichts, jedenfalls um nichts Resümierbares geht."
Womit all den kapitalistischen Rationalisierungs- und Nützlichkeitsgeboten am nachhaltigsten widersprochen wäre.
Ulrike Draesner: "Spiele"
Deutschlands blaue Flecken
Ulrike Draesners Roman "Spiele" über den Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972
Aus: Berliner Zeitung, 1.12.2005
Ulrike Draesner muss sich ab und an gefürchtet haben während der Zeit, die sie an ihrem neuen Buch gearbeitet hat. Nämlich davor, dass auch ein anderer über dieses Thema schreiben könnte: München, September 1972, Olympisches Dorf, Conollystraße, Flugplatz Fürstenfeldbruck.
Es ist die größtmögliche Katastrophe der gerade erst der Pubertät entwachsenen Bundesrepublik: In der Nacht zum 5. September 1972 überfällt ein palästinensisches Terrorkommando die Quartiere der israelischen Olympiateilnehmer, erschießt zwei von ihnen noch vor Ort, nimmt neun als Geiseln.
Auf dem Fürstenfeldbrucker Rollfeld kommt es zu einer chaotischen Schießerei zwischen den Palästinensern und der mangelhaft ausgerüsteten, sowie kaum vorbereiteten Polizei. Auch die Politik scheint qualvoll planlos in diesem Manöver. Alle Geiseln, fünf der acht Geiselnehmer und ein Polizist sterben durch Schüsse oder Handgranaten. IOC-Präsident Avery Brundage tritt vor die Presse, sagt: "The Games must go on." Die Spiele werden fortgesetzt. In der BRD wird die Grenzschutzgruppe (GSG) 9 gegründet.
Tatsächlich: So lange hat diese allzu offen klaffende Erinnerungslücke im historischen Untergrund seiner endlichen Entdeckung geharrt, dass man sich augenblicklich wundert, warum bislang kein Autor sich dessen angenommen hat. Ulrike Draesner hat. Und das mit einer lustvollen, furchtlosen und dennoch bescheidenen Autorität, die ihr so schnell keiner nachmacht. "Spiele" heißt der Roman ganz schlicht.
"Die große und kleine Geschichte kümmern sich nicht umeinander, sie durchdringen sich bloß", lautet das Mantra und heimliche Motto dieses Buches. Draesners "kleine Geschichte", teils schon durchsetzt von der großen: Die Fotojournalistin Katja Berewski kehrt im Jahr 2002, nach fortwährendem Reisen durch die Welt und deren Geschichte, zu ihrem Vater Edgar nach München zurück. Zurück auch zu der eigenen Vergangenheit: Ihre Mutter stirbt 1965, Katja fünf Jahre alt, lange ist von einem Unfall die Rede.
Anfang September 1972 lernen Katja und Edgar - vor allem Edgar - im Stadion Susanne kennen: Papa hat eine neue Frau; dann laufen im Fernsehen die Bilder der Geiselnahme; in Fürstenfeldbruck ist auch Polizeilehrling Max im Einsatz, Katjas erste Liebe, deren Vertrauen sie zuvor bitter und böse missbraucht hatte; Max wird auf dem Flughafen verletzt, hinkt seitdem.
Es geht um Erinnerung, um Liebe, um Unschuld, um Zufall oder Schicksal. Und um Heimat: Katjas Vater und seine Eltern wurden während des Zweiten Weltkriegs aus dem damaligen Schlesien vertrieben, in München hat Opa Jozef mit dem Sammeln von Werbe-Zuckerstücken begonnen: "Die Stückchen hatten viele Vorteile: sie kosteten nichts. Sie füllten die Zeit. Sie waren mit Bildchen bedruckt. Sie erinnerten, aber nicht schlimm." Die verlorene Heimat gilt Katja auch als mögliches Motiv der palästinensischen Attentäter.
Weil alles, immer anders, wiederkehrt in diesem Buch - der Zucker, die Blöße, der Verrat, das Hinken, die Spirale (das Logo der Spiele von 1972) und das Krokodil - wandelt durch die Geschichte auch ein menschlicher Wiedergänger, ein ewiger Wanderer, der immer dort ist, wo die kleine oder große Welt gerade in Bewegung gerät.Mathias, nie stillstehend: Im Olympiastadion mäandert er mit seinem Bauchladen durch die Sitzreihen, schnippt Katja eine Packung Chips vor die Füße, während Edgar gerade erste Worte mit Susanne wechselt; in Fürstenfeldbruck fährt Mathias den Bus mit den Geiseln und Geiselnehmern auf das Rollfeld, Max schüttelt ihm noch die Hand, bevor es losgeht; zum Flughafen kehrt Mathias immer wieder zurück, in der Hoffnung, ihn in Schutz zu nehmen vor denjenigen, die die fünfzehn Toten und den erhitzten Asphalt vergess en werden. Katja und er begegnen sich noch ein zweites Mal - ohne die Wiederholung zu bemerken.
Erinnern wird sich Katja trotzdem an diesen Tag, dank Mathias: "Fest drehte er mit seinen alten Fingern, alt, aber geschickt, drehte sie alle auf, Hiasl, unsichtbar an den Ventilen, eins zwei drei - schon da hing so ein Mercedes geradezu göttlich schief - wollte zu vier huschen, linkes Vorderrad, hörte Schritte und - stand aufrecht da, ohne Handschuhe, Mathias, ein alter, freundlicher Mann, der den Soldaten ... nach dem Weg zum nächsten Café fragte".
Das ist er, der unverwechselbare Draesner-Sound, schon oft vernommen, doch immer wieder neu und unerhört: kurz angebunden, perfekt getaktet, immer im Fluss, doch hart geschnitten. Ihre semantischen Morsezeichen sind präzise, scheuen weder Banalitäten noch Tragik: blank liegen die Worte, wenn Ulrike Draesner sie auseinander nimmt, so blank, dass weder der Kitsch noch die Gewalt sich hinter ihnen verstecken können. So märchenhaft ihre Geschichte, in die alle irgendwie verwickelt sind, so wahrhaftig die Sätze, die Draesner dafür findet. Als ob gerade ihr Ausloten der deutschen Sprache in der deutschen Geschichte - und der Erinnerung daran - sein eigentliches Thema gefunden hätte. Wie etwas und wie jemand zur Sprache kommt, das ist ihre Frage.
1972 lernt Katja viele neue Wörter, "Ultimatum" eines davon, "Geiseln" ein anderes. Was sie noch lernt: Dass "Zone" nicht nur den Ostblock, sondern auch die Münchner Nahverkehrsbereiche meinen kann. So werden erst Wortknäuel, 30 Jahre später Erinnerungsknoten entwirrt. Am Ende erhält das Familienmantra einen Zusatz: "Wisst ihr, wenn die kleine und die große Geschichte sich durchdringen, wer dabei die blauen Flecken bekommt? Und die Runzeln und die feuchten Augen?" Wir natürlich. In Worte gefasst aber hat diese Versehrtheit Ulrike Draesner.
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Ulrike Draesner: Spiele.
Luchterhand, München 2005. 494 S., 21,90 Euro.
Ulrike Draesners Roman "Spiele" über den Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972
Aus: Berliner Zeitung, 1.12.2005
Ulrike Draesner muss sich ab und an gefürchtet haben während der Zeit, die sie an ihrem neuen Buch gearbeitet hat. Nämlich davor, dass auch ein anderer über dieses Thema schreiben könnte: München, September 1972, Olympisches Dorf, Conollystraße, Flugplatz Fürstenfeldbruck.
Es ist die größtmögliche Katastrophe der gerade erst der Pubertät entwachsenen Bundesrepublik: In der Nacht zum 5. September 1972 überfällt ein palästinensisches Terrorkommando die Quartiere der israelischen Olympiateilnehmer, erschießt zwei von ihnen noch vor Ort, nimmt neun als Geiseln.
Auf dem Fürstenfeldbrucker Rollfeld kommt es zu einer chaotischen Schießerei zwischen den Palästinensern und der mangelhaft ausgerüsteten, sowie kaum vorbereiteten Polizei. Auch die Politik scheint qualvoll planlos in diesem Manöver. Alle Geiseln, fünf der acht Geiselnehmer und ein Polizist sterben durch Schüsse oder Handgranaten. IOC-Präsident Avery Brundage tritt vor die Presse, sagt: "The Games must go on." Die Spiele werden fortgesetzt. In der BRD wird die Grenzschutzgruppe (GSG) 9 gegründet.
Tatsächlich: So lange hat diese allzu offen klaffende Erinnerungslücke im historischen Untergrund seiner endlichen Entdeckung geharrt, dass man sich augenblicklich wundert, warum bislang kein Autor sich dessen angenommen hat. Ulrike Draesner hat. Und das mit einer lustvollen, furchtlosen und dennoch bescheidenen Autorität, die ihr so schnell keiner nachmacht. "Spiele" heißt der Roman ganz schlicht.
"Die große und kleine Geschichte kümmern sich nicht umeinander, sie durchdringen sich bloß", lautet das Mantra und heimliche Motto dieses Buches. Draesners "kleine Geschichte", teils schon durchsetzt von der großen: Die Fotojournalistin Katja Berewski kehrt im Jahr 2002, nach fortwährendem Reisen durch die Welt und deren Geschichte, zu ihrem Vater Edgar nach München zurück. Zurück auch zu der eigenen Vergangenheit: Ihre Mutter stirbt 1965, Katja fünf Jahre alt, lange ist von einem Unfall die Rede.
Anfang September 1972 lernen Katja und Edgar - vor allem Edgar - im Stadion Susanne kennen: Papa hat eine neue Frau; dann laufen im Fernsehen die Bilder der Geiselnahme; in Fürstenfeldbruck ist auch Polizeilehrling Max im Einsatz, Katjas erste Liebe, deren Vertrauen sie zuvor bitter und böse missbraucht hatte; Max wird auf dem Flughafen verletzt, hinkt seitdem.
Es geht um Erinnerung, um Liebe, um Unschuld, um Zufall oder Schicksal. Und um Heimat: Katjas Vater und seine Eltern wurden während des Zweiten Weltkriegs aus dem damaligen Schlesien vertrieben, in München hat Opa Jozef mit dem Sammeln von Werbe-Zuckerstücken begonnen: "Die Stückchen hatten viele Vorteile: sie kosteten nichts. Sie füllten die Zeit. Sie waren mit Bildchen bedruckt. Sie erinnerten, aber nicht schlimm." Die verlorene Heimat gilt Katja auch als mögliches Motiv der palästinensischen Attentäter.
Weil alles, immer anders, wiederkehrt in diesem Buch - der Zucker, die Blöße, der Verrat, das Hinken, die Spirale (das Logo der Spiele von 1972) und das Krokodil - wandelt durch die Geschichte auch ein menschlicher Wiedergänger, ein ewiger Wanderer, der immer dort ist, wo die kleine oder große Welt gerade in Bewegung gerät.Mathias, nie stillstehend: Im Olympiastadion mäandert er mit seinem Bauchladen durch die Sitzreihen, schnippt Katja eine Packung Chips vor die Füße, während Edgar gerade erste Worte mit Susanne wechselt; in Fürstenfeldbruck fährt Mathias den Bus mit den Geiseln und Geiselnehmern auf das Rollfeld, Max schüttelt ihm noch die Hand, bevor es losgeht; zum Flughafen kehrt Mathias immer wieder zurück, in der Hoffnung, ihn in Schutz zu nehmen vor denjenigen, die die fünfzehn Toten und den erhitzten Asphalt vergess en werden. Katja und er begegnen sich noch ein zweites Mal - ohne die Wiederholung zu bemerken.
Erinnern wird sich Katja trotzdem an diesen Tag, dank Mathias: "Fest drehte er mit seinen alten Fingern, alt, aber geschickt, drehte sie alle auf, Hiasl, unsichtbar an den Ventilen, eins zwei drei - schon da hing so ein Mercedes geradezu göttlich schief - wollte zu vier huschen, linkes Vorderrad, hörte Schritte und - stand aufrecht da, ohne Handschuhe, Mathias, ein alter, freundlicher Mann, der den Soldaten ... nach dem Weg zum nächsten Café fragte".
Das ist er, der unverwechselbare Draesner-Sound, schon oft vernommen, doch immer wieder neu und unerhört: kurz angebunden, perfekt getaktet, immer im Fluss, doch hart geschnitten. Ihre semantischen Morsezeichen sind präzise, scheuen weder Banalitäten noch Tragik: blank liegen die Worte, wenn Ulrike Draesner sie auseinander nimmt, so blank, dass weder der Kitsch noch die Gewalt sich hinter ihnen verstecken können. So märchenhaft ihre Geschichte, in die alle irgendwie verwickelt sind, so wahrhaftig die Sätze, die Draesner dafür findet. Als ob gerade ihr Ausloten der deutschen Sprache in der deutschen Geschichte - und der Erinnerung daran - sein eigentliches Thema gefunden hätte. Wie etwas und wie jemand zur Sprache kommt, das ist ihre Frage.
1972 lernt Katja viele neue Wörter, "Ultimatum" eines davon, "Geiseln" ein anderes. Was sie noch lernt: Dass "Zone" nicht nur den Ostblock, sondern auch die Münchner Nahverkehrsbereiche meinen kann. So werden erst Wortknäuel, 30 Jahre später Erinnerungsknoten entwirrt. Am Ende erhält das Familienmantra einen Zusatz: "Wisst ihr, wenn die kleine und die große Geschichte sich durchdringen, wer dabei die blauen Flecken bekommt? Und die Runzeln und die feuchten Augen?" Wir natürlich. In Worte gefasst aber hat diese Versehrtheit Ulrike Draesner.
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Ulrike Draesner: Spiele.
Luchterhand, München 2005. 494 S., 21,90 Euro.
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